Der große Mann

[93] Es ist ein Ding, das mich verdreußt,

Wenn Schwindel oder Schmeichelgeist

Gemeines Maß für großes preist.


Du, Geist der Wahrheit, sag' es an:

Wer ist, wer ist ein großer Mann?

Der Ruhmverschwendung Acht und Bann!


Der, dem die Gottheit Sinn beschert,

Der Größe, Bild, Verhalt und Wert,

Und aller Wesen Kraft ihm lehrt;


Des weit umfassender Verstand,

Wie einen Ball mit hohler Hand

Ein ganzes Weltsystem umspannt;


Der weiß, was Großes hie und da,

Zu allen Zeiten, fern und nah,

Und wo, und wann, und wie geschah;


Der Mann, der die Natur vertraut,

Gleichwie ein Bräutigam die Braut,

An allen Reizen nackend schaut;


Und warm an ihres Busens Glut,

Vermögen stets und Heldenmut

Und Lieb' und Leben saugend, ruht;


Und nun, was je ein Erdenmann

Für Menschenheil gekonnt und kann,

Wofern er will, desgleichen kann;
[93]

Dabei in seiner Zeit und Welt,

Wo sein Beruf ihn hingestellt,

Durch That der Kunst die Wage hält:


Der ist ein Mann, und der ist groß!

Doch ringt sich aus der Menschheit Schoß

Jahrhundertelang kaum Einer los.


Quelle:
Bürgers Gedichte in zwei Teilen. Teil 1: Gedichte 1789. Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart 21914, S. 93-94.
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