[Ach nimmer will es in dem Herzen schweigen]

[40] Ach nimmer will es in dem Herzen schweigen

Es treibt mich fort, fort aus des Lebens Mitte;

Wo eil' ich hin, wer leitet meine Schritte,

Das ferne weite Ziel noch zu erreichen?

All mein Leben,

Holder Frühling,

Morgenröte,

Abendschimmer,

Immer weiter abwärts schweben.


O stehe still du eilender Gedanken,

Laß mich in Deine klaren Augen sehen,

Daß alle meine Leiden dann vergehen.

O weile, sieh, ich kann nicht weiter wanken.

Ach, erbarme

Dich der Liebe,

Die die Sinne

Mir gelöset;

Laß mich ruhn in Deinem Arme.[40]


Die Füße hab' ich blutig schon gegangen,

Die Sonne brennt so heiß auf mich hernieder,

Und immer finde ich den Kummer wieder,

Bin ewig in dem Leben eingefangen.

Niemals weilen

Seine Schritte,

Vor mir fliehet

Sein Gebilde;

Nimmer kann ich ihn ereilen.


Mein Denken all in Liebe ist ertrunken,

Und überall seh' ich den Mächt'gen stehen,

Und überall hör' ich ihn mich verschmähen;

Bin stets in tiefen bangen Schmerz versunken.

Von dem Glücke

Ihn zu hören,

Seine Blicke

Aufzufangen,

Blicket nie ein Strahl zurücke.


Da sitz' ich weinend nun an fremder Schwelle,

Und harr' und hoffe, was ich nie erreiche,

Was ich im Herzen tief und still verschweige;

Und nimmermehr wird mir die Aussicht helle.

Muntre Lieder,

Freudig Lachen,

Frohe Blicke,

Leichte Sinne,

Nimmer kehren sie mir wieder.


So möge denn die Blume niedersterben,

Die ohne Nahrung sich hinabgehärmt,

Die nie ein goldner Sonnenstrahl erwärmt;

Ich habe nur gelebet zu verderben.

Frohes Leben

Ihn umschlinge

Dicht mit Freude;

Von der Armen

Sollst Du nie ihm Kundschaft geben.

Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 40-41.
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