[Ich trage weit, weit]

[64] Ich trage weit, weit

Herüber ein Leid,

Ich soll es verkünden

Und kann doch die Worte nicht finden.


Das Leid ist so groß,

Im eigenen Schoß

Läßt sich's nicht bewahren,

Drum sollst Du es, Freundin! erfahren.


Und kannst Du die Sprache nicht finden:

So wird sich's verkünden,

So kommt es zu Tage,

In eigener Sprache.[64]


Es hat es die Freundin erfahren,

Will still es bewahren;

Und freundlich Dein Leben,

Im Troste erheben.


Unerkanntes stilles Leben,

Hat Dir heimlich Nachricht geben,

Und ich komme schon zu spät.

Ahndung hat mich übereilet,

Und Dir zärter mitgeteilet,

Daß sie nun im Himmel geht.


Ach! sie sprach in letzten Stunden,

Schon von Dämmerung umwunden,

Liebe Worte leis von Dir.

Hat sich Deiner nie entwöhnet,

Heimlich oft nach Dir gesehnet;

Und sprach in dem Tod zu mir:


Möge sich ein neues Leben

Zwiefach schöner um Dich weben;

Hemme Deiner Tränen Lauf,

Gehe, schließe neue Bande.

Suche meine unbekannte,

Mir verlorne Schwester auf.


Teile, was Du mir geteilet,

Ihr, die noch im Leben weilet,

Bilde ihr ein freundlich Glück;

Und ich schaue dann hernieder,

Sehne aus dem Himmel wieder

Auf die Erde mich zurück.


Ach! ich hab' ihn wohl verstanden,

Deiner Töne stillen Sinn;

Tön' in Silben sich verbanden,[65]

Worte klangen zu mir hin.

Schmerz und Trost hat freundlich sich gereiht,

Zogen einig durch die Dunkelheit.


Hell in Deiner Brust erwachte

Meiner Rede dunkler Blick,

Gabst in Worten, was ich dachte,

Zartes Echo! mir zurück.

Schmerz und Trost so traulich sich umschlang,

In der Töne rührendem Gesang.


Alle Lichter sind versunken,

Nimmer wird die Liebe wach,

Ist im dunklen Blick ertrunken;

Als ihr Aug' im Tode brach,

Aller Trost mit ihr von dannen ging,

Schmerz allein mit Wehe mich umfing.


Sieh, ich bin schon weit gegangen,

Kann der Ferne nie entgehn;

Kann die Nähe nie erlangen,

Muß sie immer ferne sehn.

Schmerz auf Erden immer mit mir zieht,

Trost am Himmel auf den Wolken flieht.


Werde ich doch bald gesunden,

Schon die Trauer von mir weicht;

Habe ich sie doch gefunden,

Die an mildem Reiz ihr gleicht.

Vor der Stimme Ähnlichkeit ist schon

Aller Schmerz aus meinem Sinn entflohn.


Und sie sehnet sich dann wieder

Aus dem Himmelsschein zurücke,

Alle Sterne, ihre Blicke

Sehen auf den Freund hernieder.[66]


Alle Dunkelheit dann fliehet,

Und der Lichter froh Getümmel,

In dem tiefen blauen Himmel,

Wie ein ganzer Frühling blühet.


Und der Morgen wird ein Küssen,

Mittag wird ein süß Umfangen;

Abendrot ein still Verlangen,

Nur die Nacht werd' ich vermissen.


Die Nächte sind verschwunden,

Die Küsse sind dahin.

Es sind die dunkeln Stunden,

Mit Einsamkeit umwunden;

Kein Freuen wohnt darin,

Kein heller Sinn.


Die Blicke so gelinde,

Sind von mir weggewandt.

Der Locken zart Gewinde

Umfaßt mit goldner Binde

Nicht mehr des Freundes Hand.

Das all verschwand.


O führ' das zarte Leben,

Vertraulich mir zurück.

Will Freude viel erstreben,

Dir alles wieder geben;

Kehrt nur von jenem Glück

Ein stiller Blick.


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 64-67.
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