Einzelne

[632] Hebe selbst die Hindernisse,

Neige dich herab, Zypresse!

Daß ich deinen Gipfel küsse

Und das Leben dran vergesse.


Eure Gärtnerei zu lernen,

Könnte nimmermehr verlangen;

Mein Jasmin ist fortgegangen,

Meine Rose weilt im Fernen.


Die Nachtigall, sie war entfernt,

Der Frühling lockt sie wieder;

Was Neues hat sie nicht gelernt,

Singt alte liebe Lieder.


Luna, solcher hohen Stelle

Weiten Umblick neid ich dir;

Sei auch der Entfernten helle,

Aber äugle nicht mit ihr.


Liebevoll und frank und frei

Riefst du mich heran;

Langsam geh ich nun vorbei,

Siehst du mich denn an?


Ringlein kauft! geschwind, ihr Fraun!

Möcht nicht weiterwandeln;

Gegen Aug und Augenbraun

Wollt ich sie verhandeln.
[632]

Ach, Zypresse, hoch zu schauen,

Mögest du dich zu mir neigen;

Habe dir was zu vertrauen,

Und dann will ich ewig schweigen.


Harre lieblich im Kyanenkranze,

Blondes Mädchen, bleib er unverletzt,

Auch wenn Luna in Orions

Glanze Wechselscheinend sich ergetzt.


Weiß ich doch, zu welchem Glück

Mädchen mir emporblüht,

Wenn der feurig schwarze Blick

Aus der Milch hervorsieht.


Von der Rose meines Herzens

Pflücktest Blätter nach Gefallen,

Sind vor Glut des Scheideschmerzens

All die andern abgefallen.


Liebt ich dich als Kleine, Kleine,

Jungfrau warst du mir versagt;

Wirst doch endlich noch die Meine,

Wenn der Freund die Witwe fragt.
[633]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 632-635.
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