Der Müllerin Verrat

[133] Woher der Freund so früh und schnelle,

Da kaum der Tag im Osten graut?

Hat er sich in der Waldkapelle,

So kalt und frisch es ist, erbaut?

Es starret ihm der Bach entgegen;

Mag er mit Willen barfuß gehn?

Was flucht er seinen Morgensegen

Durch die beschneiten, wilden Höhn?


Ach, wohl! Er kommt vom warmen Bette,

Wo er sich andern Spaß versprach;

Und wenn er nicht den Mantel hätte,

Wie schrecklich wäre seine Schmach!

Es hat ihn jener Schalk betrogen

Und ihm den Bündel abgepackt;

Der arme Freund ist ausgezogen

Und fast, wie Adam, bloß und nackt.
[133]

Warum auch schlich er diese Wege

Nach einem solchen Äpfelpaar,

Das freilich schön im Mühlgehege,

So wie im Paradiese, war.

Er wird den Scherz nicht leicht erneuen;

Er drückte schnell sich aus dem Haus

Und bricht auf einmal nun, im Freien,

In bittre, laute Klagen aus.


»Ich las in ihren Feuerblicken

Nicht eine Silbe von Verrat;

Sie schien mit mir sich zu entzücken

Und sann auf solche schwarze Tat!

Konnt ich in ihren Armen träumen,

Wie meuchlerisch der Busen schlug?

Sie hieß den holden Amor säumen,

Und günstig war er uns genug.


Sich meiner Liebe zu erfreuen!

Der Nacht, die nie ein Ende nahm!

Und erst die Mutter anzuschreien,

Nun eben als der Morgen kam!

Da drang ein Dutzend Anverwandten

Herein, ein wahrer Menschenstrom;

Da kamen Vettern, guckten Tanten,

Es kam ein Bruder und ein Ohm.


Das war ein Toben, war ein Wüten!

Ein jeder schien ein andres Tier.

Sie forderten des Mädchens Blüten

Mit schrecklichem Geschrei von mir. –

Was dringt ihr alle wie von Sinnen

Auf den unschuld'gen Jüngling ein?

Denn solche Schätze zu gewinnen,

Da muß man viel behender sein,
[134]

Weiß Amor seinem schönen Spiele

Doch immer zeitig nachzugehn.

Er läßt fürwahr nicht in der Mühle

Die Blumen sechzehn Jahre stehn. –

Sie raubten nun das Kleiderbündel

Und wollten auch den Mantel noch.

Wie nur so viel verflucht Gesindel

Im engen Hause sich verkroch!


Nun sprang ich auf und tobt und fluchte,

Gewiß, durch alle durchzugehn.

Ich sah noch einmal die Verruchte,

Und ach! sie war noch immer schön.

Sie alle wichen meinem Grimme;

Es flog noch manches wilde Wort;

Da macht ich mich, mit Donnerstimme,

Noch endlich aus der Höhle fort.


Man soll euch Mädchen auf dem Lande

Wie Mädchen aus den Städten fliehn.

So lasset doch den Fraun von Stande

Die Lust, die Diener auszuziehn!

Doch seid ihr auch von den Geübten

Und kennt ihr keine zarte Pflicht,

So ändert immer die Geliebten,

Doch sie verraten müßt ihr nicht.«


So singt er in der Winterstunde,

Wo nicht ein armes Hälmchen grünt.

Ich lache seiner tiefen Wunde;

Denn wirklich ist sie wohlverdient.

So geh es jedem, der am Tage

Sein edles Liebchen frech betriegt

Und nachts, mit allzu kühner Wage,

Zu Amors falscher Mühle kriecht.
[135]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 133-136.
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