Gesang der Geister

über den Wassern

[312] Des Menschen Seele

Gleicht dem Wasser:

Vom Himmel kommt es,

Zum Himmel steigt es,

Und wieder nieder

Zur Erde muß es,

Ewig wechselnd.


Strömt von der hohen,

Steilen Felswand

Der reine Strahl,

Dann stäubt er lieblich

In Wolkenwellen

Zum glatten Fels,

Und leicht empfangen,

Wallt er verschleiernd,

Leisrauschend

Zur Tiefe nieder.
[312]

Ragen Klippen

Dem Sturz entgegen,

Schäumt er unmutig

Stufenweise

Zum Abgrund.


Im flachen Bette

Schleicht er das Wiesental hin,

Und in dem glatten See

Weiden ihr Antlitz

Alle Gestirne.


Wind ist der Welle

Lieblicher Buhler;

Wind mischt vom Grund aus

Schäumende Wogen.


Seele des Menschen,

Wie gleichst du dem Wasser!

Schicksal des Menschen,

Wie gleichst du dem Wind!


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 312-313.
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