Am Geburtstage meines Freundes Hofmann

[31] Monden schwinden, Jahre fliehen

Auf den Fittigen der Zeit!

Kaum siehst du die Rose glühen,

Kaum siehst du das Veilchen blühen,

Hat ein Windstoß sie zerstreut.


Heute strahlt Gesundheitsfülle

Aus des Knaben muntern Blick!

Morgen deckt des Grabes Hülle

Ihn mit grauser Todesstille,

Und erloschen ist sein Blick!


Wohl dem, der als Greis und Knabe

Nur der holden Tugend lebt,

Und auch an dem nahen Grabe

An des Alters schwachem Stabe

Nicht vor dem Vergelter bebt!


Der, doch mäßig und bescheiden,

Auch des Lebens Lust genießt,

Und zum Kelche seiner Leiden

Manchen Tropfen sanfter Freuden

Weise und bedachtsam gießt.


Dem zum Guten und zum Schönen

Liebe nur die Brust erfüllt,

Der der armen Waise Stöhnen

Und der Witwe herbe Tränen

Helfend wie ein Engel stillt.


Er kann froh den Blick erheben,

Denn er ist ein braver Mann,

Ewig, ewig wird er leben,[31]

Über Sternen wird er schweben,

Denn auch er hat recht getan!


Teurer Freund, auch du sollst nützen! –

Höre stets der Tugend Ruf,

Denn du sollst sie unterstützen

Und gekränkte Unschuld schützen,

Wie das Wesen, das dich schuf!


Nicht nur nützen; auch das Freuen

Weigert dir die Gottheit nicht:

Deine Kraft den Musen leihen,

Und dich ihrem Dienste weihen,

Sei dir Freude, sei dir Pflicht!


Handle immer brav und bieder! –

Hast du recht und brav getan,

Dann singt einst der Chor der Brüder

Dir am Grabe Trauerlieder,

»Hier auch liegt ein braver Mann!«


Den 27ten juli 1806


Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 31-32.
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