8. Süße Täuschung

[203] Oft, wenn ich bei der Sterne Schein

Zum Kirchhof meine Schritte lenke,

Und mich so tief, so ganz hinein

In jene sel'ge Zeit versenke,

Wie wir zusammen Hand in Hand

Hier wandelten in stillem Wehe,

Da ist es mir, als ob das Band

Noch immer heiter fortbestehe.


Wir gehen fort und immer fort

Und schau'n die Gräber in der Runde,

Du hast für jegliches ein Wort

Und sprichst es aus mit sanftem Munde,[203]

Du sprichst vom frühen Schlafengeh'n

Und von der Eitelkeit der Erde

Und von dem großen Wiederseh'n,

Das Gott uns nicht versagen werde.


Und kommt zuletzt dein eigen Grab,

So rufst du aus: wir müssen scheiden!

Der Vater ruft die Tochter ab,

Wir wußten's längst, und wollen's leiden!

Und ruhig wandle ich hinaus,

Wie einst aus deines Vaters Garten,

Wenn er dich heimrief in das Haus,

Du aber sprachst, ich solle warten.


Quelle:
Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. 1. Abteilung: Werke, Berlin [1911 ff], S. 203-204.
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