Nächtliches Wiegenlied

[353] Lieb Knäblein schlaf'! Ich wache gern,

O schlaf', mein armes Kind!

Am Himmel steht der Abendstern,

Der sieht recht lieb und lind.

Es sehn ja alle Sterne

Mein bleiches Kindlein gerne.

Schlaf' ein, mein frommes Kind!


Ja, schlaf' in Gottes Namen ein,

Die Aeuglein schließe zu;

Dann sehn die lichten Engelein

Herab auf Deine Ruh. –

Da draußen wehn die Bäume,

Sie rauschen bunte Träume. –

Ach, thu' die Aeuglein zu! –
[354]

Lang ist's schon, daß mein armes Herz

Der süße Schlummer flieht

Und daß auf meinen stillen Schmerz

Der Mond hernieder sieht.

Mein Waislein, bleib doch liegen,

Will Dich als Mutter wiegen;

Horch' auf ein neues Lied!


Aus theurem Grabe wuchs ein Reis,

Das war so zart und fein;

Ich pflanzt' es in mein Beet mit Fleiß

Und sah es schön gedeih'n;

Nun nagt an seinem Herzen

Ein böser Wurm mit Schmerzen,

Nun welkt es mir zur Pein.


Wol träumt ich manchen schönen Traum

Von meinem lieben Reis:

Ich hofft', es werd' ein hoher Baum

Zu Gottes Ehr' und Preis,

Der, dacht' ich, wird in Stürmen

Viel schwache Bäumlein schirmen

Umher im weiten Kreis. –
[355]

Mein Hoffen seh' ich nun vergehn:

Es welkt mein Zweigelein,

Und seh doch andre Reislein stehn,

Die nicht so lieb und fein. –

O, schlaf', mein armer Knabe!

Die Mutter schläft im Grabe

Und denkt im Himmel Dein.


Berlin, Winter 1817.


Quelle:
Louise Hensel: Lieder. Paderborn 41879, S. 353-356.
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Lieder (Ausgabe von 1879)
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