Der Genius der Zukunft

[274] Juni 1769.


1.

Vom dunkeln Meer vergangener Thaten steigt

Ein Schattenbild in die Seel' empor!

Wer bist Du, Dämon? Kommst Du leiten

Mein Lebensschiff in die Höh dort auf?

In die blaue Nebelferne dort auf, wo Meer und Himmel

Verweben ihr Truggewand?[274]

Wie oder Flamme des hohen Masts,

Mir Irrphantom, und nicht der Errettenden Einer,

Der sternegekrönten Götter?


2.

Flamm auf, Du Licht, der Zeiten Gesang! Du strahlst

Vom Angesicht der Vergangenheit und bist

Mir Fackel, meinen Gang dort fürder

Zu leiten, dort, wo die Zukunft graut,

Wo ihr Haupt der Saum der Wolke verhüllt, wo Erd' und Himmel

Sich weben, als wär' es Eins!

Denn was ist Lebenswissen? und Du,

Der Götter Geschenk, Prophetengesicht und der Ahnung

Vorsingende Zauberstimme?


3.

Mit Flammenzügen glänzt

In der Seelen Abgründen der Vorwelt Bild

Und schießt weit über weissagend starkes Geschoß

In das Herz der Zukunft! Siehe, da steigen

Der Mitternacht Gestalten empor! wie Götter aus Gräbern empor,

Aus Asche der Jugendgluth die Seher! Sie zerreißen

Mit Schwerterblitzen das Gewölk! Sie wehn

Im Blick durch die sieben der Himmel und schwingen sich herab!

Dann liest der Geist in seines Meers

Zauberspiegel die Ewigkeit!


1.

Dich bet' ich an, o Seele! der Gottheit Bild

In Deine Züge gesenkt! In Dir

Zusammengehn des weiten Weltalls

Erhalterband'! Aus der Tiefe, Dir

Aus dem Abgrund webt sich Weltengebäu, und sinnst und tastest

Zum Saume des Ends hinan!

Nur tief umhüllt! in schwangerem Schooß

Mit Wolken umhüllt! in Kluft des erbrausenden Meeres,

Da ruht die keimende Nachwelt!


2.

Wer fand den Sonnenspiegel, ins dunkeln Meers

Verhüllte Schätze zu sehn? Wer fand

Das Auge dieser neuen Schöpfung?

Und ging hinein im Triumph? und nahm

Im Triumph die tiefen Welten gefangen? und kam und nannte

Den Herrscher des Abgrunds sich?[275]

Es liegt verflochten und unentwirrt

Der Thaten Gespinnst! Des Glücks unerforschlichen Knäuel

Webt ab die leitende Zeit mir!


3.

Ich aber komme jetzt

Von der röthenden Dämmerung Morgenhöhn

Und sinn' hinüber und ziele gefiederten Blick

Zu des Ufers Hoffnung! Siehe, da kommen

Der Anfuhrt hohe Boten mir schon, umkränzen mit Freudegesang

Die Gipfel des Schiffs! Ich seh', Ihr Götter! da ergrünen

Gebirg', wie Säulen des Triumphs! da wehn,

Sie wehn mit den Düften der Felder und locken mich hinan!

O Land! o Land! der schwarzen Ueberfahrt

Schlünden entrann ich, o Land!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 274-276.
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