Die Menschenseele

[371] 1774.


Wie nenn' ich es, das über Menschenseelen

Ein Siegel Gottes schwebt

Und ihre Tiefen (Niemand kann sie zählen)

Zu einem Bilde webt!


Zum Gottgebilde, das, itzt zarte Pflanze,

Sich sauget Blut aus Thau,

Wird, was nur sie soll sein, aus Sonnenglanze

Und feuchter, wilder Au;


Allmählig Baum, fühlt Baumäonenleben,

So schlank und fest und grün,

Und strebt mit Wurzeln, Zweigen, fortzuweben

Und neue Kraft zu ziehn.


Ich fühle Pflanz' und Baum in Frucht, in Samen,

In Düften, Laub und Blatt,

Blick' in sie tief, und doch – wer leiht mir Namen,

Was Jedes ist und hat?


Ich schweig' und staune nur, blick' auf und nenne

Die Sonnen jener Nacht,

Die Welten! – und blicke tiefer noch und kenne

Den Abgrund seiner Macht,


Die Seelen! mehr als Welten! Der ins Leben

Sie rief, der Gottheit Schein,

Unnennbar, unersetzbar fortzuweben,

Licht in die Nacht zu streun:


Ihm sangen schon die Himmel hohe Fülle

Des Einklangs der Natur,

Und ungesättigt stand er, sann, und stille

Haucht' er – in Dich sich nur!


In Dich, o Seele! Feire, Menschenseele,

Dem tiefen Gotteswink,

Und wenn Dein Wesen, wenn aus Grabeshöhle

Mit Schauer Dich umfing


Ein heil'ger Schatte, sahest Bild, wie Züge

Von Geistesangesicht,[372]

Das ging vorüber, und des Bildes Züge,

Sein Antlitz sahst Du nicht.


Und eine Stimme sprach, und tiefes Beben

Ergriff Dich: »Wer bist Du,

Den Brunn zu öffnen, wo mit ew'gem Streben

Die Gottheit quillet? Du?


Erzittre dem Gebot! Des Ew'gen Schleier

Umwebt mit Dunkelheit

Der Schöpfung Allerheiligstes, wo Feuer

Der Gottheit Flammen streut,


Die Menschenseele! Fühl's und sinke nieder

Mit frohem Ungestüm,

Dem alle Stern' und Seelen singen Lieder,

Der Seelen Vater, ihm!


Dem ihre Tief' und Höhe singt, ihr Werden

Und Sein von Licht zu Licht,

Von dumpfer Dämmrung hier auf dunkler Erden

Bis einst zu Angesicht.«


Ich zittre! – Wag' ich's? Seine Schatten winken,

Der Seelen Abglanz winkt

Mir Schau'r auf Schauer schon – und ich? – soll trinken,

Wie Seel' aus Seele trinkt,


Wie Bruder hangt am Bruder, trinken Liebe

Aus ihm, der sich für mich

Zur Seele haucht auf dieser Erdentrübe

Zu meinem Bilde? – Ich? –


O, nenn es nicht, was über Menschenseelen

Ein Siegel Gottes hängt

Und ihre Tiefen (Niemand kann sie zählen)

Wohin? zum Ursprung drängt.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 371-373.
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