Lobgesang am Neujahrsfeste

[244] Riga 1765.


Ihm, der zehntausend Sonnenheere

Im Strahlenangesicht als Bräute schuf,

Dem jedes Jahr erklingt und jede Erde

Hüpft wie ein Elephant,


Dem tausend Frühlingschöre scherzen,

Die Schnitter singen und das Waldheer brüllt:

Dem jauchz', o Leyer, himmelhohe Lieder,

Stolz, daß Dich Jovah hört!


Denn wenn die Morgensterne jauchzen

Und Erden hüpfen und die Jahrszeit singt,

Hört er im festlichen Concert der Sphären

Noch gern Dein wimmernd Lied.


Drum tön' am neuen goldnen Jahre

Von goldnen Saiten ihm ein neues Lied!

Er gab dem Jahr das Allmachtshorn der Fülle

Und Balsam seinem Fuß.


Der hier ein Kriegsvolk satter Aehren

Und dort ein Blumenheer wie Jungfrau'n sproßt,

Daß Balsamwolken wandelten zum Himmel,

Ein Festgeruch dem Herrn:


Er krönte unser Jahr mit Palmen,

Daß Segensströme niederthaueten,

Er schloß die Stadt zum Fels, hob unsre Häuser

Hoch zu Palästen auf,


Umlagert' uns, statt Kriegesheeren,

Mit Schiffen – ja, rings um uns ward

Die Flur ein Paradies, da die Monarchin

Als Göttin zu uns kam.


Heil uns, wir sahn Sie, deren Adler,

So wie Aurorens goldne Flügel, Ruh

Auf uns herabgießt – sahn Sie, deren Scepter

Mit Weisheit Riga hält.
[245]

Drum jauchze, Land, dem Kronengeber,

Daß er Sie Dir geschenkt, daß Du Sie sahst!

Sing, Landmann, wenn Du mähst, Ihr Erntelieder,

Wo Sie als Ceres fuhr!


»Heil uns, wir streueten Ihr Kränze!«

So singt, Jungfrauen, einst zum Hochzeitsreihn!

Und Euer Bräut'gam sing': »Vor Ihr, der Sonne,

Blüht' ich zum Manne auf!«


»Zum Mann auch ich!« so hüpft der Jüngling.

»Zum Jüngling ich!« so lallt das Kind und drückt

Der Mutter Brust. Die jauchzt; der Ungeborne

Hüpft froh in ihrem Schooß.


Und sterbend hebt der Greis die Hände

Und segnet Sie, zum letzten neuen Jahr:

»Seht lange, lange Sie, mein Sohn und Enkel!

Ich aber geh' heut hin


Zum Friedensheer des vor'gen Jahres

Und küsse, Freude weinend, noch Ihr Bild!

Im Todtenreich, mit allen meinen Brüdern,

Da segn' ich Ihr noch nach,


Bring' Ihres vor'gen Jahres Tage

Vor Gott, und höre Jeden Gnade schrein

Und Thaten rühmen, edler als der Lorbeer,

Mit Brüderblut gedüngt.


Dann eilt ein neues Jahr zum Lohne

Als Segensbot' im Seraphsglanz herab,

Gießt Ihrem Adler schreckend Feu'r ins Auge,

Daß er sein Reich bedeckt,


Wo Grazien und Künste blühen

Und Tugend bis zum Himmel Blumen trägt.

Dann, Söhne, opfert Dank und lebt in Unschuld,

Daß einst Ihr sterbt wie ich!«


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 244-246.
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