Zum Schlusse der Rede am Sarge

der früh verstorbenen Jungfrau Maria Margaretha Kanter

[419] zu Königsberg am 16. März 1764 gehalten.


Hier steh' ich Jüngling,

Um mich Gräber der Brüder, und trete

Verblühten Schwesterstaub!

Fühlst Du? – Nein, er fühlt nicht meinen Tritt,

Der verlebte Staub!

Hört nicht meine Stimme, nie des Tempels

Stimme, die Tod und Leben posaunt.

Nacht! – ich hör'! – wie redst Du mir, Asche,

Aus der Urne schwangerm Schooß

Gedanken herauf, und jener Moder

Dumpfte Antwort und schwieg!

Denn es lispelt um mich. Im heil'gen Kreise

Wandeln Geister um mich?

Geister, weiht Ihr die neue Todte vorm Altar

Eleusinisch in Euren Kreis?

Denn kaum Hekate sieht's durchs ew'ge Fenster,

Und ich seh' Euch nicht!

Könnt' ich – ja, ich werd' Euch – wie?

Wenn ich Asche bin? und wenn?

Tod! Du kochst in mir mein Feuer zu Asche,

Den Gedanken zu Nichts, den Wunsch zu Nichts!

Gedankenwelt! Fluthen von Wünschen, Ihr sammlet,

Steht und brauset um mich!

Brauset herab! – Sei in mir Stille,

Wie die Natur einst steht,

Wenn sie, Welten zur Sonn' zu hauchen, erst Kräfte

Athmet; Stille, wie mein Gedanke

Einst aufflammet und stirbt, der Wünsche letzter

Einst auffluthet und sinkt

Hin ins Nichts!


O Kluft – ich Geist, wie Gott! –

Er rief Geister aus Nichts, ich, Geist, Gedanken

Aus Nichts hervor!

Er sprach: Körper! Auch ich will: es wird Handlung.

Und ich, Schöpfer, bin einst Nichts!

Gedanke – Handlung – mein Ich – kein Fußstapf mehr![420]

Ich war nicht – bin – bin nicht mehr!

Schattete auf – schatte – schatte vorbei!

Licht, das mich abschattete! warum? Doch, Mitternachtsgedanke,

Sei mir Morgenstern!

Bin ich durch ihn, ward ich – wohl! so werd' ich

Durch ihn sein!

Denn durch ihn, durch ihn schaff' ich seine Welten

In mir nach und seh' mich selbst!

Und auch ihn kann ich einst wie mich selbsten sehn!

Geist, mit welchem Gedankenstrahl im hohen

Auge gehst Du einst, ihn zu sehn!


Morgenstern! nein, Morgensonne, den Tempel

Glänzest Du um mich auf!

Dort, Messias' Bild am heiligen Altar,

Stirbt der Jüngling; im Auge des Jünglings stirbt

Der Gedank: »Vollbracht ist's, Vater!«

Wohl! Vater? vollbracht? Wohl! diesen Gedanken,

Tod, ihn brich einst ab, nimm mich in ihm!

Doch vollbracht? – Ich? weiß ich? fing ich an?

Und vollbracht? – Noch steh' ich hier, Jüngling!

Wolan! ich geh' und denk' und wirke und genieße

Mich noch, Jüngling, ganz.

Jede Nerv' und Ader und Freund und Augenblick

Mensch und Christ und Freund zu sein!

Und, wie Sonne, Leben umher zu streuen,

Daß ich's fühl' und Jeder fühl': »Ich bin«.

Und mein höchster Freudengedank ist Tod; mein Todesgedank ist:

»Vater, vollbracht!«

Und dann läutet! – Sie läuten? –

Ja, sie läuten die Todesglocken! es betrog sich meine

Phantasie! vergeben Sie ihren hingerissnen Traum!

– Doch nicht mein Ohr! Sie rufen uns zum Grabe.

– Wir gehen; unser Gedanke sei Grab!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 419-421.
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