Lied des Lehrers

[486] O Vater, Vater, Dich soll ich

Die Menschenkinder lehren!

O lehre mich, erhebe mich,

Dein Wort nur mir zu hören,

Und laß es denn im Munde mein

Den Brüdern Milch und Honig sein,

Es ewig zu genießen,

Es ewig fort zu gießen!


O Gott, o Gott, verdiente ich,

Ich, Deinen Sohn zu kennen?

Du wähltest, Du geliebtest mich,

In ihm nur Dich zu nennen,

Und zeigtest mir Dein Himmelreich,

Verborgen sonst uns allzugleich;

Was Witz und Weisheit schweiget,

Hast Du mir, Herr, gezeiget.


Geheimniß, Gottes Menschenplan,

Du Schatz der Ewigkeiten!

Wie lieb' ich Dich und bete an

Und dürste, fortzuschreiten[486]

Zu Dir, der Du mir Alles bist

Und dies mein armes Ich erkiest,

Mir drin in Himmelsstille

Zu werden Licht und Fülle!


Ich hörte den Gesang der Nacht,

Das Lied der stillen Sterne;

Ich sah den Schauplatz Deiner Macht,

Nur ahnend Dich von ferne.

Und, Herr, da wardst Du mir so nah,

Dort überall und hier mir da,

Wo sich's im Herzen reget,

Wo dieser Puls Dich schläget.


Ich fragte Sonn' und Mond und Stern,

Dort Himmel und hier Erden:

»Saht Ihr ihn?« »Sahn ihn nur von fern;

Sein Hauch nur hieß uns werden;

Ein Wink aus jener Dunkelheit,

Wo er sich selbst ist Licht und Kleid,

Nur dieses Winkes Zeugen,

Verkünden wir und schweigen.«


Umringt von lichter Dunkelheit,

O Gott, sank ich danieder,

Fand Alles voll von Dir allweit

Und Alles öde wieder,

Und ächzete, Dich nah zu sehn,

Und, Herz, tief in Dein Herz zu gehn,

Am Brunnquell aller Gaben

Mich innig satt zu laben.


Da sprach statt Sonne mir und Stern

Ein Bruder mir auf Erden:

»Was tappst Du da, so matt und fern!

Hieß er nicht Mensch Dich werden?

Und hat Dir in Dein Menschenbild

Der Gottheit Kräfte tief verhüllt,

Und sollst am Quell der Gaben

Dich satt, o satt einst laben!«


»Er ward, wie Du!« Mein Schöpfer dort,

Mein Bruder hier auf Erden,[487]

Du wurdest Ich! Ach, immerfort

Soll ich, was Du bist, werden!

Dich suchen nicht auf ödem Thron,

Dich schau'n in mir, Dich schau'n im Sohn,

Daß mir ein Bild der Liebe,

Mir in mir ewig bliebe!


Daß ich verklärt ins Angesicht

Des Sohns den Vater preise

Und fühle nur, was mir gebricht,

Und sei mir selbst nicht weise,

Nicht mächtig als in Vaters Kraft,

Und sang' am Bruder Lieb' und Saft

Und steig' auf dieser Leiter

Der Menschengottheit weiter!


Weg, Sonn' und Mond und Siebenstern,

Ihr Flimmer seines Thrones!

Ihr glimmt und leuchtet nur von fern

Dem Fußtritt seines Sohnes.

Sein Bild bin ich! ein Gottesbild,

In diesen Leichnam tief verhüllt,

Und werd' einst aufwärts flammen

Mit ihm, ihm selbst zusammen.


Noch sind wir nicht, was einst wir sein,

Sind hier nur Todsgebeine;

Und doch, doch sind wir sein Gebein,

Mein Herz hier ist das seine.

Gesäet jetzt in Gottesland,

Verwes' ich, mir noch unbekannt;

Dort, dort werd' ich mich kennen

Und mich in ihm nur nennen!


O Licht, Du Gottes-Menschen-Plan,

Du Schatz der Ewigkeiten!

Ich liebe Dich und bete an

Und dürste, fortzuschreiten

Zu ihm, der mir nun Alles ist

Und dies mein armes Ich erkiest,

Zu sein, wonach ich thräne

Und mich ermattend sehne.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 486-488.
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