Die Erfinderin der Künste

[130] Daphne.


Liebe war's, die jede schöne Kunst erfand.

Des Geliebten Umriß schattend an der Wand,

Zeichnete das Mädchen, und, von Glanz umstrahlt,

Hat an Amor's Fackel liebend sie's gemalt.


Daphnis.


Liebe war's, die jede schöne Kunst erfand.

Als am Marmorfelsen Amor bildend stand,

Fühlete der Marmor, und von Venus' Thron

Stieg ein liebend Mädchen zu Pygmalion.


Beide.


Liebe, die dem Leben jeden Reiz erfand,

Die dem Sieger Myrten um die Schläfe wand,

Die zu Myrt' und Rosen Graziengewand,

Spiel' und Artigkeiten, Tanz und Kuß erfand.


[130] Daphnis.


Und mit Zaubertönen, voll von süßem Schmerz,

Schafft sie uns im Herzen ein wie andres Herz!

Freundschaft, hohe Tugend, Braut und Vaterland!

Liebe war's, die jede schöne That erfand.


Daphne.


Liebe, die der Sprachen schönste Sprache fand.

Was der Mund zu sagen sich nicht unterwand,

Sprach die goldne Cither; Wunsch und Sympathie

Goß sich in die Saiten: so ward Poesie.


Beide.


Liebe, Du der Menschen göttlichster Verstand,

Die des Unglücks Stürme siegend überwand,

Die im Unglück fester Herz an Herzen band,

Knüpfe Seel' an Seele, knüpfe Hand in Hand!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 130-131.
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