An Herrn Professor Sulzer,

über den Tod seines Kindes

[140] (Zu Berlin im April 1761.)


Sie ist nicht mehr! o du ihr Vater weine,

Auf jenen Ueberrest entseeleter Gebeine,

Dein in dich dringend Leid!

Nichts half die Kunst, und nichts daß du gerungen

Hast im Gebet, sie ging auf größre Foderungen

Hin in die Ewigkeit!


Da wird sie sich mit jenem Geiste küssen

Der deine Liebe hat mit sich dahin gerissen

Wo nichts, als Liebe lebt!

Da wird sie nun im Schooß der Mutter liegen

Und ihr erzählen, wie dein einziges Vergnügen,

Ihr Schatten, um dich schwebt!
[141]

Sie wird ihr sagen, wie du dich vergessen,

Oft Stunden lang bey ihr am Sterbebett gesessen,

Und ihren Schmerz beklagt,

Und wie du sie, wenn sie voll Schmerzen stöhnte

Nach ihrer Wünsche Ziel, nach welchem sie sich sehnte,

So zärtlich hast gefragt.


Freund, klage nicht, nein singe Lobgesänge;

Denn auf ihr lag zu schwer mit ungeheurer Menge

Von Qualen schon der Tod!

Er saß in eingefallnen blassen Wangen,

Und war der Frost des Fiebers nun vergangen

So glüht' er in dem Roth.


Nicht unerwartet kam er sie zu holen;

Nein, lange schon ward dir, wann er gedroht, befohlen:

Bereite dich! sey stark!

So sey auch nun ein Mann in deiner Klage,

Dein Kind ruht jetzt, und ihrer Krankheit Plage,

Bleibt diesseits vor dem Sarg.
[142]

Ihr Witz, der hier noch unenthüllt geblieben,

Wird dort sich in dem Buch der höchsten Weisheit üben,

Wird keiner Zeiten Raub;

Und kommt einmal der Herr, den Erdcreyß richten.

Dann weckt ein Engel sie zu ewgen Pflichten

Des Dankes aus dem Staub!


Aus einem Staube der sie wieder giebet;

Dann siehst du das, o Freund! was du an ihr geliebet

Vollkommner reizend seyn;

Itzt fragst du: o warum ist sie geschieden?

Erwarte nur den Uebergang zum Frieden

Dann leuchtet dir es ein!


Hier in der Welt voll Unruh, voller Sorgen

Bleibts vor dem trüben Blick des Sterblichen verborgen,

Warum Gott so verfährt;

Dort aber, wo vor hundert tausend Sonnen

Die Finsterniß nie einen Sitz gewonnen,

Ist alles aufgeklärt.

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Auserlesene Gedichte, Berlin 1764, S. 140-143.
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