An Ihro Königl. Hoheit die Mutter des Preußischen Thronfolgers

[101] Den 29sten Jenner 1764.


Die Du gleich einem andern Menschenkinde

Des Tages Schönheit nicht gekannt,

Als man zuerst die goldne Fürstenbinde

Um Deine Stirne wand;


Du wurdest von zwe'n Himmlischen bewundert,

Die Deinen ersten Schlaf bewacht.

Sie sprachen von dem künftigen Jahrhundert,

Und von der Krone Pracht,


Die Deines Sohnes Schläfe würde schmücken,

Und wenn er säß auf seinem Thron,

Dann segneten die Völker mit Entzücken

Die Mutter und den Sohn.
[101]

Prinzeßin, also sprachen mit einander

Zwe'n Engel, welche sich vergnügt,

Daß nicht in Dir ein zweyter Alexander,

Ein Pyrrhus ward gewiegt;


Daß nicht in Dir tief eingewickelt läge

Ein Prinz, der einst voll Kriegeswut

Durch Feld und Wald bezeichnete die Wege

Mit der Erschlagnen Blut.


Sie sahen alle Züge, die gezwungen

Dein Freund, Dein König, muste thun,

Und Schlachten, die den Feinden mißgelungen,

Eh Friedrich konnte ruhn;


Und Deinen Sohn bekleidet mit dem Panzer,

Den Heldendegen in der Hand,

Und voller Glut, als wär in Ihm Sein ganzer

Sonst sanfter Geist entbrannt,


O Fürstin! Die Beschützer Deiner Wiege

Begleiteten Ihn durch Gefahr,

Als Er bey Friedrichs letztem großen Siege

An den Sudeten war,
[102]

Sie brachten diesen Stolz des Vaterlandes

An Deine Brust, und lächeln einst,

Wenn wegen eines schön verschränkten Bandes

Du Deine Freude weinst;


Wenn Er mit Deinen Tugenden gezieret

Die reizendste Prinzeßinn sieht,

Und wenn Er Sie bey Seiner Hand geführet

An Deinen Busen zieht,


Und Ihren Geist und Ihres Herzens Schöne

Mehr als der Wange Blüthen liebt,

Und Seinen ewigsichern Staaten Söhne,

Nachfolger Friedrichs, giebt.
[103]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 101-104.
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