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[62] Ich will spiegeln mich in jenen Tagen,

Die wie Lindenwipfelwehn entflohn,

Wo die Silbersaite, angeschlagen,

Klar, doch bebend, gab den ersten Ton,

Der mein Leben lang,

Erst heut noch, widerklang,

Ob die Saite längst zerrissen schon!


Wo ich ohne Tugend, ohne Sünde,

Blank wie Schnee, rein vor der Sonne lag;

Wo dem Kinderauge noch die Binde

Lind verbarg den blendend hellen Tag!

Du entschwundne Welt,

Klingst über Wald und Feld

Hinter mir, wie ferner Wachtelschlag!


Wie so fabelhaft ist hingegangen

Jene Zeit voll zarter Frühlingspracht,

Wo, von Mutterliebe noch umfangen,

Schon die Jugendliebe leis erwacht',

Wie, vom Sonnenschein

Durchspielt, ein Edelstein,

Den ein Glücklicher ans Licht gebracht.


Und die weiße Rose in der Mitte,

Tat sich auf der ganze Blumenflor,

Blühte und erstarkte jede Sitte,

Und die Hoffnung stand am Lebenstor.

Alles wundert' sich,

Ich aber freute mich,

Bis den Talisman ich selbst verlor!
[63]

Wenn ich scheidend einst muß überspringen

Jene Kluft, die keine Brücke trägt,

Wird mir nicht ein Lied entgegenklingen,

Das bekannt und ahnend mich erregt?

O die Welt ist weit!

Ob nicht die Jugendzeit

Irgendwo noch an das Herz mir schlägt?


Träumerei! Was sollten jene hoffen,

Die nicht sahn der Jugend Herrlichkeit?

Die ein unnatürlich Los getroffen,

Frucht zu bringen ohne Blütenzeit!

Ach, was man nicht kennt,

Darnach das Herz nicht brennt

Und bleibt kalt dafür in Ewigkeit!


In den Waldeskronen meines Lebens

Säusle fort, du kühles Morgenwehn!

Leuchte hell, o Sonne meines Strebens,

Ich will treu in deinem Scheine gehn!

Rankend Immergrün

Soll meinen Stab umblühn,

Doch noch einmal will ich rückwärts sehn!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 62-64.
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