Feldbeichte

[53] Im Herbst, wenn sich der Baum entlaubt,

Nachdenklich wird und schweigend,

Mit Reif bestreut sein welkes Haupt,

Fromm sich dem Sturme neigend:


Da geht das Dichterjahr zu End,

Da wird mir ernst zu Mute;

Im Herbst nehm ich das Sakrament

In jungem Traubenblute.


Da bin ich stets beim Abendrot

Allein im Feld zu finden,

Da brech ich zag mein Stücklein Brot

Und denk an meine Sünden.
[53]

Ich richte mir den Beichtstuhl ein

Auf ödem Heideplatze;

Der Mond, der muß mein Pfaffe sein

Mit seiner Silberglatze.


Und wenn er grämlich zögern will,

Der Last mich zu entheben,

Dann ruf ich: »Alter, schweig nur still,

Es ist mir schon vergeben!


Ich habe längst mit Not und Tod

Ein Wörtlein schon gesprochen!«

Dann wird mein Pfaff vor Ärger rot

Und hat sich bald verkrochen.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 53-54.
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