In fremden Landen

[360] An des Heimatflusses Borden,

Wo die Linden überhangen,

Bin ich manches Mal gegangen,

Wenn die Erde jung geworden

Und den Frühlingsmantel wob,

Wenn die Wasser voller klangen

Und bis vor die Füße drangen,

Daß der Pfad sich schwellend hob.


Wenn die Welle singend flieht,

Ist's, als höre man Geschichten,[360]

Was im Oberland geschieht,

Weit ins Niederland berichten;

Und so man stromaufwärts sieht,

Will es scheinen, daß das ganze

Innre Land im Firnenglanze

Auf der Flut herunterzieht.


Ausgespannte Netze schimmern

Zwischen blütenweißen Bäumen,

Perlend in der Sonne flimmern

Sie von feuchten Wasserschäumen;

Und ein Knäblein schläft im Kahn,

Schaukelnd sich in jungen Träumen;

Ohne Hast und ohne Säumen

Schafft der Vater nebenan.


Ja, mit ruhig festem Schritte

Schreiten dort die Männer hin;

Schlicht bescheiden ist die Sitte,

Ernst bewegt der freie Sinn.

Und in ihrer sichern Mitte

Wuchsen Recht und Freiheit auf;

Das Gesetz schirmt Haus und Hütte,

Jeden Herd ein Büchsenlauf.


Hier, an diesem fremden Strand,

Wachsen Weine stark und süß,

Und es gleicht das üppige Land

Wohl auch einem Paradies;

Aber dumpf und ungewiß

Sind die Herzen und die Blicke,

Und verworrene Geschicke

Walten in der Finsternis.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 360-361.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gesammelte Gedichte
Die Leute von Seldwyla / Gesammelte Gedichte: BD 3
Sieben Legenden und Gesammelte Gedichte