Heimweh

[243] An den schönen Limmatborden,

Die so grün ins Wasser hangen,

Bin ich manches Mal gegangen,

Wenn die Erde jung geworden

Und den Frühlingsmantel wob,

Wenn die Wasser voller klangen

Und bis vor die Füße drangen,

Daß der Pfad sich schwellend hob.


Wenn die Welle singend flieht,

Ist's, als höre man Geschichten,

Was im Oberland geschieht,

Weit ins Niederland berichten;

Und wenn man stromaufwärts sieht,

Will es scheinen, daß die ganze

Innre Schweiz im Firnenglanze

Auf der Flut herniederzieht.
[243]

Ausgespannte Netze schimmern

Zwischen blütenweißen Bäumen,

Perlend in der Sonne flimmern

Sie von feuchten Wasserschäumen.

Und ein Knäblein schläft im Kahn,

Wiegend sich in jungen Träumen;

Ohne Hast und ohne Säumen

Schafft der Vater nebenan.


Ja, mit ruhig festem Schritte

Schreiten dort die Männer hin!

Klar und einfach ist die Sitte,

Klug und ernst der freie Sinn.

Und in ihrer sichern Mitte

Wuchsen Recht und Freiheit groß;

Das Gesetz schmückt jede Hütte,

Jeden Herd ziert ein Geschoß.


Etwas Wein auch pflanzt der Bauer

An der Berge grünen Füßen,

Wenn auch manchmal etwas sauer:

Arbeit weiß ihn zu versüßen.

Längst schon wohnt an jenen Flüssen

Rasche Tat, entschloßnes Handeln,

Daß vor ihrem heitren Wandeln

Gram und Sorge schwinden müssen.


Hier, an diesem fremden Strand,

Sind die Weine stark und süß,

Und es gleicht das edle Land

Auch wohl einem Paradies;

Aber dumpf und ungewiß

Sind die Herzen und die Blicke,

Und verworrene Geschicke

Walten in der Finsternis!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 243-244.
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