Der Nachahmer, und der Erfinder

[254] Nachahmer.


Stolz blickt nieder auf mich dein lächelndes Auge; und gleichwol

Wandl' ich die Bahn der unsterblichen Alten!


Erfinder.


Singst du mir guten Gesang; so späh' ich nicht nach, wo du schöpfest:

Denn du schöpfest in hellen Kristall.


Nachahmer.


Aber, ich weiss es! du freust mit Stolze dich, dass in dem Haine

Du dir selber Quellen hervorrufst.


Erfinder.


Ich, kein Hasser des Schweigens, vertraute dir das? Doch es sey so.

Jeder hat seine Freuden, des Quells

Ich, und du des Kristalls.


Nachahmer.


Du hast, ich weiss es! noch Eine,

Wenn sie aus deinen Quellen sich schöpfen!


[255] Erfinder.


Ja, du warst der Vertraute!


Nachahmer.


Ich geh, nachahmend, den sichern

Pfad; was ich auskohr, hat schon gefallen!

Aber er, der es wagt nicht nachzuahmen ... Ich zittre

Für den kühnen! Sieht er die Zukunft?

Weiss er, wohin der Hörer ihn stellen werde? Geleite,

Phöhus Apoll, den steigenden Wandrer!

Viele sind meiner Freuden: Da schwebt das gezauberte Urbild!

Nun, nun bild' ich es nach! Ich vergleiche.

Hab' ichs erreicht; so lächl' ich mir zu: und hab' ich, ihr Musen,

Hab' ich es übertroffen; so wein' ich!

Zürnest du mir? denn du schweigest.


Erfinder.


Ich zürne nicht. Viel des Genusses

Strömte dir zu: mir wurde sein auch;

Aber andrer. Der Grieche, der dir das gekohrene Urbild

Zauberte, war nicht ohne Genuss.


Nachahmer.


Gleichst du mir etwa nicht? Denn ahmest du nicht die Natur nach?


Erfinder.


Gleicher? Ein rötherer Morgen gebar

Deinen Freund. Nur selten ward die Natur von dem Griechen

Nachgeahmet; er stellte sie dar.


Quelle:
Friedrich Gottlieb Klopstock: Oden, Band 2, Leipzig 1798, S. 254-256.
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