Die Tränen

[110] Tränen, euch, ihr trauten, lieben,

Bring ich diesen Dankgesang!

Seid ja auch nicht ausgeblieben,

Wenn mein Herz im Liede klang;


Schlichet die bekannten Gleise

Still herab, als wolltet ihr

Meinen Schmerz behorchen leise,

Und das Lied quoll sanfter mir.


Wenn der Dolch im Busen wühlte,

Tief vom Unglück eingebohrt,

Kam der Trost von euch und spülte

Linde die Verzweiflung fort.


O flieht keinen Wildumdrohten

Von Orkan und Wetterschein!

Naht ihm, naht ihm, Friedensboten,

Laßt den Armen nicht allein!


Ist die Nacht vorbei, so fehle

Ihm doch eure Treue nicht,

Und die Traufe seiner Seele

Netze mild sein Angesicht


Mit der Wehmut süßen Tropfen,

Daß sein Herz, wars auch gequält,

Nie verlerne doch zu klopfen

Dieser schönen Gotteswelt. –


Nicht nur, wo der Herzensnager

Gram wühlt, habt ihr euern Lauf,

Auch wo Lust ihr Reiselager

Schlägt in einem Busen auf:[110]


Ha, wie wogt das Festgetümmel

In dem engen Kämmerlein,

Wenn der ganze reiche Himmel

Überfüllend will hinein!


Und die Tränen seh ich blinken

Auf der Wang im Freudenglast,

Und sie zittern, und sie winken

Alle Welt herein zu Gast. –


Als ich einst am Sterbebette

Eines lieben Freundes stand

Und der Tod die Freudenkette

Kalt uns aus den Händen wand;


Weint ich ihm die letzte Ölung,

Und – schon lag er still und bleich:

Doch in seines Auges Höhlung

War noch eine Träne weich;


War so heilig anzuschauen,

Wies die Sehnsucht himmelan,

Wie der Engel, den die Frauen

Einst am Grabe Jesu sahn.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 110-111.
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