Frühling

[344] Die warme Luft, der Sonnenstrahl

Erquickt mein Herz, erfüllt das Tal.

O Gott! wie deine Schritte tönen!

In tiefer Lust die Wälder stöhnen;

Die hochgeschwellten Bäche fallen

Durch Blumen hin mit trunknem Lallen;

Sein bräutlich Lied der Vogel singt,

Die Knosp in Wonne still zerspringt;

Und drüber goldner Wolken Flug;

Die Liebe ist in vollem Zug.

An jeder Stelle möcht ich liegen;

Mit jedem Vogel möcht ich fliegen,

Ich möchte fort und möchte bleiben,

Es fesselt mich und will mich treiben.

O Lenz, du holder Widerspruch:

Ersehnte Ruh und Friedensbruch,

So heimatlich und ruhebringend,

So fremd, in alle Ferne dringend.

Das Frühlingsleuchten, treu und klar,

Erscheint dem Herzen wunderbar

Ein stehngebliebner Freudenblitz,

In Gottes Herz ein offner Ritz;

Und wieder im Vorübersprung

Ein Himmel auf der Wanderung;

Ein irrer Geist, der weilend flieht[344]

Und bang das Herz von hinnen zieht.

Ich wandle irr, dem Himmel nach,

Der rauschend auf mich niederbrach;

O Frühling! trunken bin ich dein!

O Frühling! ewig bist du mein!

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 344-345.
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