Die kleine Blanche

[20] An dem kleinen Hofe von Navarra

War das Leben eine lose Fabel,

Eine drohnde oder heitre Maske,

Eine überraschende Novelle,

Ein phantastisch wahrheitloses Schauspiel –

Der am Hofe war auf kurzen Urlaub,

Hauptmann Duplessis saß vor der Bühne,

Drauf ein Mädchen an verratner Liebe

Starb. Im letzten Akte lag sie marmorn

Auf dem Grabmal als ihr eigen Bildnis,

Schluchzend rang die Hände der Verräter,

Sieh! da hob sie sachte sich und lebte.[20]

Andern Tages wandelte der Hauptmann

In des Schlosses irrsam dunkeln Gärten,

An die zarte kleine Blanche denkend,

Die er schnell geküßt und schnell verraten –

Etwas sieht er schimmern durch Zypressen:

Auf dem Grabmal liegt die kleine Blanche

Marmorn. An dem Sockel ist zu lesen:

»Blanche schlummert nach verratner Liebe.«

»Heb dich, kleine Blanche!« ruft der Hauptmann.

»Wickle dich aus deinen weißen Tüchern!

Spiel nicht mit dem Tode, kleine Blanche!«

Doch der Marmor fühlte nichts. Es fühlte

Nichts, die drunter schläft. Sie starb im Ernste.


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 20-21.
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