Die zwei Reigen

[67] Ein Cherub schritt das Tal empor

Und schlug das Volk mit Schwert und Pest,

Hinsank der halbe Jugendflor –

Die Schwalbe kehrt und baut das Nest.


Brautführer will der Frühling sein,

Und wer das Lieb verloren hat,

Dem gibt mit einem blühnden Mai'n

Er eines an des toten statt.


Er führt auf schwellend grünen Plan

Den Rest der Jugend, neu gepaart,

Und hebt ein mächtig Fiedeln an

Von Liebesglück und Minnefahrt.


Die Paare fliegen rasch daher,

Ein Lenzgesind, gejagt vom Wind,

Dabei wird manches Herze schwer,

Das an die alte Liebe sinnt...


Doch Leben hat das Leben gern,

Und leicht gewöhnt sich Brust an Brust,

Die Toten liegen tief und fern

Und wissen nichts von unsrer Lust...
[67]

Die Sonne schwand. Hell scheint ins Land

Der Mond und streut den Silberglanz,

Der Reigen dreht sich Hand in Hand

Und Mund an Mund und Kranz an Kranz...


Da steigt es aus der Wiese leis

Und beut sich auch die Hände sacht:

Genüber schwebt ein stiller Kreis

Im blauen Duft der Lenzesnacht.


Es haucht ein sanfter Flötenlaut

Und toter Jüngling, tote Maid

Umschlingen sich im Reigen traut

Und ohne Neid und ohne Leid.


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 67-68.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1892)
Gedichte.
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Ausgewählte Novellen / Gedichte (Fischer Klassik)
Gedichte: Apparat zu den Abteilungen III und IV
Gedichte: Apparat zu den Abteilungen VIII und IX. Nachträge, Verzeichnisse, Register zu den Bänden 1 bis 7