Hesperos

[102] Über schwarzem Tannenhange

Schimmerst mir zum Abendgange,

Eine Liebe fühl ich neigen

Sich in deinem Niedersteigen,

Unbemerkt bist du gekommen,

Aus der blassen Luft entglommen.

So mit ungehörten Tritten,

Durch die Dämmrung hergeglitten,

Kam die Mutter, die mir legte

Auf die Schulter die bewegte

Hand, daß ich ihr nicht verhehle,

Was ich leide, was mich quäle,

Und warum ich ohne Klage

Mich verzehre, mich zernage.

Und ich schwieg und unter Zähren

Ließ sie meinen Trotz gewähren.

Hat sie Wohnung jetzt, die Milde,

Dort in deinem Lichtgefilde?

Deiner Strahlen saug ich jeden,

Durch das Dunkel hör ich reden,

– Und mir ist, als ob die kühle

Hand ich auf der Schulter fühle –,

Reden, nicht von Seligkeiten,

Nur Erinnrung alter Zeiten!

Jetzt versteht sie ohne Kunde

Wer ich bin im Herzensgrunde.

Dies und jenes muß sie schelten,

Andres läßt sie heiter gelten,

Und sie meint, wie sich's entschieden,

Gebe sie sich auch zufrieden...

Abendstern, du eilst geschwinde!

Laß sie plaudern mit dem Kinde!

Freundlich zitternd gehst du nieder...

Mutter, Mutter, komme wieder!


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 102-103.
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