Einladung in die Laube

[170] An Damon.


1772.


Zu kurz ist dieses Leben, um zu klagen,

Und viel der Freuden sind noch ungefühlt;

Drum laß uns, Damon, jeden Gram verjagen,

Der in der Seele wühlt![170]


Zur Freude schuf uns die Natur den Lenzen,

Und tausend bunte Frühlingsblumen blähn

Im Garten sich, sie allesamt zu Kränzen

Um unser Haupt zu drehn.


Komm in die kühle Nacht der Sommerlaube,

Wo lieblicher Jesmin bei Rosen blüht,

Und feuriger der Saft der rhein'schen Traube

Im Deckelglase glüht!


Manch Rosenblättchen schwimmt, herabgerissen,

Im edeln Wein, und ruft uns warnend zu:

»Eil Jüngling, deine Tage zu genießen!

Denn sterblich bist auch du.«


Um Chloen girrst du, Damon, wie die Taube,

Und sendest tausend Seufzer hin zu ihr;

Sie aber trinkt indes in meiner Laube

Mit Daphnen, und mit mir.


O komm, verzagter Jüngling, deine Klagen,

Und die im Herzen tiefverborgne Pein,

Mit offner Brust, ihr freier vorzusagen:

Denn kühner macht der Wein;


Und milder auch! Der Liebe sanftes Feuer

Strahlt schon aus ihrem blauen Aug'; es lacht

So freundlich, wie Diana, ohne Schleier,

In einer Maiennacht.


Komm, was sie lange barg, anjetzt zu sehen,

Ein Herz, das deinem Herzen zugehört:

Denn seine tiefsten Winkel auszuspähen,

Hat Bacchus mich gelehrt. –[171]


O, wer beherrscht die Herzen allgemeiner,

Als Vater Bacchus! Solche Blicke thut,

Bis tief ins Herz hinab, der Weisen keiner,

Wie ich beim Traubenblut.


Da winden sich Gedanken an Gedanken

Gewaltig aus dem engen Kerker los;

Geheimnisse durchbrechen ihre Schranken,

Und fliehn in Freundes Schoß.


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 170-172.
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