Lied einer Kostgängerin, an eine Nonne

[238] 1773.


Du wurdest Mutter mir, als ich

Die Teure sah erblassen;

Nun soll ich, ach, auf ewig dich,

Und diesen Ort verlassen![238]


Aus einer Welt, wo Trug und Tand

Sein wildes Reich verbreitet,

Ward ich, an eines Engels Hand,

Zu dir hieher geleitet.


Da lehrtest du mein Herz allein

Nach Jesu Liebe trachten,

Und aller Erde goldnen Schein

Für eiteln Flitter achten.


O, wie so oft die Seele mir

In heißer Flamme glühte,

Wenn ich in stiller Nacht mit dir

Vor Seinem Kreuze kniete!


Von Lieb' und Inbrunst angefüllt,

Vernahm ich deine Lehren,

Und sah sich Seiner Mutter Bild

Im deinigen verklären.


Es kam zu mir im Traum, es glich

An Milde deinen Mienen;

Wies auf ein Kreuz, und warnte mich,

Nicht mehr der Welt zu dienen!


Und, ach! ich soll die Warnung nicht

Der Hochgelobten hören;

Soll, wider meinen Gott und Pflicht,

Aus dieser Zelle kehren!


Soll in die Welt, auf deren Pfad

So leicht die Tugend gleitet,

Wo nicht dein Beispiel, nicht dein Rat

Mich, als ein Engel, leitet!


O bitte du für mich! Du bist

An ihn als Braut vermählet;

Bitt ihn, daß mein er nicht vergißt,

Wenn ihn mein Herz verfehlt!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 238-239.
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