Der Esel

[137] Der Esel trat als Supplicant

Zum Löwen. Sir, darf ich es wagen,

Sprach er, ein Wort dir vorzutragen?

Die Polizey in jedem Land

Hat Männer von Talent ernannt,

Des Nachts die Stunden anzusagen:

Nun wissen Berge, Thal und Wald,

Wie mächtig meine Töne schallen,

Drum bitt ich, Sir, laß dir gefallen

Mit einem mäßigen Gehalt

Von Rocken, Haber oder Kleyen

Das Wächteramt mir zu verleihen.

Er senkt das Ohr und schweigt. Alsbald

Wird seine Bitte placidieret;

Der Esel wird durch Stab und Horn

Zum Stundenrufer investieret,

Und ein Gehalt von Heidekorn

Wird ihm in Gnaden assignieret.

Die Nacht bricht ein. Wie Boreas

Ruft er: ihr Herren, laßt euch sagen ...

Dem Hof gefiel der neue Spaß;

Doch, als der Seiger Eins geschlagen[138]

Und er noch rief, da fieng der Chan

Den Schreyer zu verwünschen an;

Und Luna gieng noch nicht zur Neige,

So bot er durch ein Windspiel ihn

Auf seine Burg. Das Thier erschien.

Geh, friß dein Korn daheim und schweige.

So sprach der Fürst und ließ ihn ziehn;

Und so entstanden in dem Staate

Die fetten Hofkanonikate

Für Eseln, die auf Polstern ruhn,

Und Sold beziehn um nichts zu thun.

Quelle:
Gottlieb Konrad Pfeffel: Poetische Versuche, Erster bis Dritter Theil, Band 2, Tübingen 1802, S. 137-139.
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