Der Sänger singt vor einem Fürstenkind

[437] Dem Andenken von Paula Becker-Modersohn


Du blasses Kind, an jedem Abend soll

der Sänger dunkel stehn bei deinen Dingen

und soll dir Sagen, die im Blute klingen,

über die Brücke seiner Stimme bringen

und eine Harfe, seiner Hände voll.


Nicht aus der Zeit ist, was er dir erzählt,

gehoben ist es wie aus Wandgeweben;

solche Gestalten hat es nie gegeben, –

und Niegewesenes nennt er das Leben.

Und heute hat er diesen Sang erwählt:


Du blondes Kind von Fürsten und aus Frauen,

die einsam warteten im weißen Saal, –

fast alle waren bang, dich aufzubauen,

um aus den Bildern einst auf dich zu schauen:

auf deine Augen mit den ernsten Brauen,

auf deine Hände, hell und schmal.


Du hast von ihnen Perlen und Türkisen,

von diesen Frauen, die in Bildern stehn

als stünden sie allein in Abendwiesen, –

du hast von ihnen Perlen und Türkisen

und Ringe mit verdunkelten Devisen

und Seiden, welche welke Düfte wehn.
[437]

Du trägst die Gemmen ihrer Gürtelbänder

ans hohe Fenster in den Glanz der Stunden,

und in die Seide sanfter Brautgewänder

sind deine kleinen Bücher eingebunden,

und drinnen hast du, mächtig über Länder,

ganz groß geschrieben und mit reichen, runden

Buchstaben deinen Namen vorgefunden.


Und alles ist, als wär es schon geschehn.


Sie haben so, als ob du nicht mehr kämst,

an alle Becher ihren Mund gesetzt,

zu allen Freuden ihr Gefühl gehetzt

und keinem Leide leidlos zugesehn;

so daß du jetzt

stehst und dich schämst.


... Du blasses Kind, dein Leben ist auch eines, –

der Sänger kommt dir sagen, daß du bist.

Und daß du mehr bist als ein Traum des Haines,

mehr als die Seligkeit des Sonnenscheines,

den mancher graue Tag vergißt.

Dein Leben ist so unaussprechlich Deines,

weil es von vielen überladen ist.


Empfindest du, wie die Vergangenheiten

leicht werden, wenn du eine Weile lebst,

wie sie dich sanft auf Wunder vorbereiten,

jedes Gefühl mit Bildern dir begleiten, –

und nur ein Zeichen scheinen ganze Zeiten

für eine Geste, die du schön erhebst. –
[438]

Das ist der Sinn von allem, was einst war,

daß es nicht bleibt mit seiner ganzen Schwere,

daß es zu unserm Wesen wiederkehre,

in uns verwoben, tief und wunderbar:


So waren diese Frauen elfenbeinern,

von vielen Rosen rötlich angeschienen,

so dunkelten die müden Königsmienen,

so wurden fahle Fürstenmunde steinern

und unbewegt von Waisen und von Weinern,

so klangen Knaben an wie Violinen

und starben für der Frauen schweres Haar;

so gingen Jungfraun der Madonna dienen,

denen die Welt verworren war.

So wurden Lauten laut und Mandolinen,

in die ein Unbekannter größer griff, –

in warmen Samt verlief der Dolche Schliff, –

Schicksale bauten sich aus Glück und Glauben,

Abschiede schluchzten auf in Abendlauben, –

und über hundert schwarzen Eisenhauben

schwankte die Feldschlacht wie ein Schiff.

So wurden Städte langsam groß und fielen

in sich zurück wie Wellen eines Meeres,

so drängte sich zu hochbelohnten Zielen

die rasche Vogelkraft des Eisenspeeres,

so schmückten Kinder sich zu Gartenspielen, –

und so geschah Unwichtiges und Schweres,

nur, um für dieses tägliche Erleben

dir tausend große Gleichnisse zu geben,

an denen du gewaltig wachsen kannst.
[439]

Vergangenheiten sind dir eingepflanzt,

um sich aus dir, wie Gärten, zu erheben.


Du blasses Kind, du machst den Sänger reich

mit deinem Schicksal, das sich singen läßt:

so spiegelt sich ein großes Gartenfest

mit vielen Lichtern im erstaunten Teich.

Im dunklen Dichter wiederholt sich still

ein jedes Ding: ein Stern, ein Haus, ein Wald.

Und viele Dinge, die er feiern will,

umstehen deine rührende Gestalt.


Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 437-440.
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