Aus einer Sturmnacht
Acht Blätter mit einem Titelblatt
Titelblatt

[460] Die Nacht, vom wachsenden Sturme bewegt,

wie wird sie auf einmal weit – ,

als bliebe sie sonst zusammengelegt

in die kleinlichen Falten der Zeit.

Wo die Sterne ihr wehren, dort endet sie nicht

und beginnt nicht mitten im Wald

und nicht an meinem Angesicht

und nicht mit deiner Gestalt.

Die Lampen stammeln und wissen nicht:

lügen wir Licht?

Ist die Nacht die einzige Wirklichkeit

seit Jahrtausenden...
[460]

[1]

In solchen Nächten kannst du in den Gassen

Zukünftigen begegnen, schmalen blassen

Gesichtern, die dich nicht erkennen

und dich schweigend vorüberlassen.

Aber wenn sie zu reden begännen,

wärst du ein Langevergangener

wie du da stehst,

langeverwest.

Doch sie bleiben im Schweigen wie Tote,

obwohl sie die Kommenden sind.

Zukunft beginnt noch nicht.

Sie halten nur ihr Gesicht in die Zeit

und können, wie unter Wasser, nicht schauen;

und ertragen sie's doch eine Weile,

sehn sie wie unter den Wellen: die Eile

von Fischen und das Tauchen von Tauen.


[2]

In solchen Nächten gehn die Gefängnisse auf.

Und durch die bösen Träume der Wächter

gehn mit leisem Gelächter

die Verächter ihrer Gewalt.

Wald! Sie kommen zu dir, um in dir zu schlafen,

mit ihren langen Strafen behangen.

Wald!
[461]

[3]

In solchen Nächten ist auf einmal Feuer

in einer Oper. Wie ein Ungeheuer

beginnt der Riesenraum mit seinen Rängen

Tausende, die sich in ihm drängen,

zu kauen.

Männer und Frauen

staun sich in den Gängen,

und wie sich alle aneinander hängen,

bricht das Gemäuer, und es reißt sie mit.

Und niemand weiß mehr wer ganz unten litt;

während ihm einer schon das Herz zertritt,

sind seine Ohren noch ganz voll von Klängen,

die dazu hingehn...


[4]

In solchen Nächten, wie vor vielen Tagen,

fangen die Herzen in den Sarkophagen

vergangner Fürsten wieder an zu gehn;

und so gewaltig drängt ihr Wiederschlagen

gegen die Kapseln, welche widerstehn,

daß sie die goldnen Schalen weitertragen

durch Dunkel und Damaste, die zerfallen.

Schwarz schwankt der Dom mit allen seinen Hallen.

Die Glocken, die sich in die Türme krallen,

hängen wie Vögel, bebend stehn die Türen,

und an den Trägern zittert jedes Glied:[462]

als trügen seinen gründenden Granit

blinde Schildkröten, die sich rühren.


[5]

In solchen Nächten wissen die Unheilbaren:

wir waren...

Und sie denken unter den Kranken

einen einfachen guten Gedanken

weiter, dort, wo er abbrach.

Doch von den Söhnen, die sie gelassen,

geht der Jüngste vielleicht in den einsamsten Gassen;

denn gerade diese Nächte

sind ihm als ob er zum ersten Mal dächte:

lange lag es über ihm bleiern,

aber jetzt wird sich alles entschleiern –,

und: daß er das feiern wird,

fühlt er...


[6]

In solchen Nächten sind alle die Städte gleich,

alle beflaggt.

Und an den Fahnen vom Sturm gepackt

und wie an Haaren hinausgerissen

in irgend ein Land mit ungewissen

Umrissen und Flüssen.

In allen Gärten ist dann ein Teich,[463]

an jedem Teiche dasselbe Haus,

in jedem Hause dasselbe Licht;

und alle Menschen sehn ähnlich aus

und halten die Hände vorm Gesicht.


[7]

In solchen Nächten werden die Sterbenden klar,

greifen sich leise ins wachsende Haar,

dessen Halme aus ihres Schädels Schwäche

in diesen langen Tagen treiben,

als wollten sie über der Oberfläche

des Todes bleiben.

Ihre Gebärde geht durch das Haus

als wenn überall Spiegel hingen;

und sie geben – mit diesem Graben

in ihren Haaren – Kräfte aus,

die sie in Jahren gesammelt haben,

welche vergingen.


[8]

In solchen Nächten wächst mein Schwesterlein,

das vor mir war und vor mir starb, ganz klein.

Viel solche Nächte waren schon seither:

Sie muß schon schön sein. Bald wird irgendwer

sie frein.

Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 460-464.
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