Der Leser

[636] Wer kennt ihn, diesen, welcher sein Gesicht

wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten,

das nur das schnelle Wenden voller Seiten

manchmal gewaltsam unterbricht?


Selbst seine Mutter wäre nicht gewiß,

ob er es ist, der da mit seinem Schatten

Getränktes liest. Und wir, die Stunden hatten,

was wissen wir, wieviel ihm hinschwand, bis
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er mühsam aufsah: alles auf sich hebend,

was unten in dem Buche sich verhielt,

mit Augen, welche, statt zu nehmen, gebend

anstießen an die fertig-volle Welt:

wie stille Kinder, die allein gespielt,

auf einmal das Vorhandene erfahren;

doch seine Züge, die geordnet waren,

blieben für immer umgestellt.


Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 636-637.
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