Das Einhorn

[506] Der Heilige hob das Haupt, und das Gebet

fiel wie ein Helm zurück von seinem Haupte:

denn lautlos nahte sich das niegeglaubte,

das weiße Tier, das wie eine geraubte

hülflose Hindin mit den Augen fleht.
[506]

Der Beine elfenbeinernes Gestell

bewegte sich in leichten Gleichgewichten,

ein weißer Glanz glitt selig durch das Fell,

und auf der Tierstirn, auf der stillen, lichten,

stand, wie ein Turm im Mond, das Horn so hell,

und jeder Schritt geschah, es aufzurichten.


Das Maul mit seinem rosagrauen Flaum

war leicht gerafft, so daß ein wenig Weiß

(weißer als alles) von den Zähnen glänzte;

die Nüstern nahmen auf und lechzten leis.

Doch seine Blicke, die kein Ding begrenzte,

warfen sich Bilder in den Raum

und schlossen einen blauen Sagenkreis.


Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 506-507.
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Neue Gedichte - Der Neuen Gedichte anderer Teil.
Insel Taschenbücher, Nr.49, Neue Gedichte