Hertzliches Klag- und Trost-Lied

Einer angefochtenen, hochbetrübten Seelen, so mit Angst und Verzweiffelung ringet.


1.

Jammer hat mich gantz umbgeben,

Elend hat mich angethan.

Trawren heist mein kurtzes Leben,

Trübsal führt mich auf den Plan.

Gott, der hat mich gar verlassen,

Keinen Trost weis ich zu fassen

Hie auff dieser Unglücks Bahn.


2.

Grausamlich bin ich vertrieben

Von des Herren Angesicht',

Als' ich, jhn allein zu lieben,

Nicht gedacht' an meine Pflicht;

Drumb muß ich so kläglich stehen.

Doch es ist mir recht geschehen:

Mein Gott rieff, ich hört' jhn nicht.


3.

Ach mein Schifflein wil versincken

Recht auff diesem Sünden-Meer.

Gottes Grimm läst mich ertrincken,

Denn sein' Hand ist viel zu schwer.

Ja mein Schifflein läst sich jagen

Durch Verzweifflungs-Angst und Plagen

Gantz entanckert hin und her.


4.

Gott hat mein jetzt gar vergessen,

Weil ich nicht an jhn gedacht.

Meine Sünd' hat er gemessen

Und mir feindlich abgesagt,

Daß ich ringen muß die Hände.

Sein Erbarmen hat ein Ende,

Schier bin ich zur Hellen bracht.
[185]

5.

Wo ist Rath und Trost zu finden,

Wo ist Hülff' in dieser Noth?

Herr, wer rettet mich von Sünden,

Wer erlöset mich vom Tod'?

Ich gedencke zwar der zeiten,

Da du pflagst für uns zu streiten,

Ja zu ziehen aus dem Koht'.


6.

Aber nun hat sich geendet

Deine Lieb' und grosse Trew.

Ach! Dein Hertz' ist abgewendet

Und dein Grimm wird täglich new.

Du bist von mir außgegangen;

Herr, dein Zorn hält mich gefangen,

Ich verschwinde wie der Sprew.


7.

Höllen-Angst hat mich getroffen,

Mein Gewissen quälet mich.

Kein' Erlösung' ist zu hoffen,

Ich empfinde Todes-Stich'

Und ein unauffhörlichs Sterben.

Herr, ich eile zum Verderben,

Ich vergehe jämmerlich.


8.

Grawen hat mich überfallen,

Zittern hat mich angesteckt.

Schwerlich kan ich nunmehr lallen,

Angst und Furcht hat mich bedeckt.

Ach! Ich wandel' jetzt die Strassen,

Da ich mich muß martern lassen;

O wie wird mein Geist erschreckt!


9.

Wil mir denn kein Trost erscheinen,

Spür' ich gar kein Gnaden-Liecht?

Nein: Vergeblich ist mein weinen,

Mein Gebet, das hilfft mir nicht.

Uber mich verlaßnen Armen

Wil kein Helffer sich erbarmen;

Ich bin todt, mein Hertz zerbricht!

Christlicher Trost der angefochtenen Seelen.


10.

Liebste Seel', hör' auff zu schreyen,

Deines Klagens ist zu viel.

Nach dem Trawren kommt das Frewen,

Hertzens-Angst hat auch jhr Ziel.

Wechseln ist bey allen Sachen;

Nach dem heulen kan man lachen,

Gott, der treibt mit dir sein Spiel.


11.

Ist dein Heyland von dir gangen:

Er wird wiederkommen schon

Und mit Frewden dich umbfangen

Recht wie den verlohrnen Sohn.

Hat dein Liebster dich verlassen,

Ey er kan dich doch nicht hassen,

Seine Güt' ist doch dein Lohn.


12.

Hat dich Gott dahingegeben,

Daß dich Satan sichten sol

Und das Creutz dich mache beben:

Ey er meynt doch alles wol;

Diß sind seiner Liebe Zeichen,

Die doch keiner kan erreichen,

Wenn er nicht ist Glaubens voll.


13.

Ob dich dein Gewissen naget,

Ob dein Geist bekümmert ist,

Ob der Höllen Furcht dich plaget,

Ob dich schreckt des Teuffels List:

Trawre nicht, Gott wird es wenden

Und dir grosse Lindrung senden,

Wenn du nur gedültig bist.


14.

Moses hat diß auch erfahren

Und sein Bruder Aaron.

Noah und die mit jhm waren,

Sahen nicht die Gnaden-Sonn.

David, Joseph und Elias,

Petrus, Paulus und Tobias

Trugen auch jhr Theil davon.


15.

Sey zufrieden, liebe Seele,

Billich trägst du solche Last.

Hie in dieser Unglücks-Höle

Weis man doch von keiner Rast.

Drumb so stille doch dein Zagen

Und bedenck', es sind die Plagen,

Die du längst verdienet hast.


16.

Brausen jetzt die Wasserwogen,

Morgen stillet sich das Meer.

Ist dir heut' einst Frewd' entzogen,

Morgen kommt sie wieder her.

Ist dir aller Trost entgangen:

Sey zufrieden, dein Verlangen

Wird erfüllet ohn Beschwer.
[186]

17.

Was betrübst du dich mit Schmertzen?

Stille doch, und harr' auff Gott.

Dancken wil ich jhm von Hertzen,

Daß ich werde nicht zu Spott'.

Ob er mich gleich würde tödten,

Hilfft er mir dennoch aus Nöthen,

Er, der starcker Zebaoth.


18.

Herr', errette mich mit Frewden

Aus der Höllen Grawsamkeit.

Hilff mir, daß ich auch im Leyden

Dir zu dienen sey bereit.

Gibst du nur des Geistes Gaben,

Daß sie mir die Seele laben,

Tret' ich frölich an den Streit.


Quelle:
A. Fischer / W. Tümpel: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts, Band 2, Hildesheim 1964, S. 183-187.
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