Wechselgesang

[195] Sie


Leicht fühl' ich mich, als schwebt' ich schon von hinnen

Und brächte Dank den Gütigen dort oben,

Wo Freudenströme lau im Äther rinnen,

Daß mein Geschick sie mir so leicht gewoben;

Drum wollen neue Torheit wir ersinnen.

Und laß zur Sicherheit noch dir geloben,

Daß ich die Kühnheit nicht zu furchtsam meide,

So frei du schwärmst in sinnreich feiner Freude.


Er


So frei du schwärmst in sinnreich feiner Freude,

Seh' ich doch auch das Gold im Glase blinken;

Und willst du, daß ich keinen Gott beneide,

Vergiß die strenge Sitt' und laß uns trinken,

Bis wir vom heitern Scherz berauscht sind beide.

Die Kunst ist leicht, nur folge meinen Winken!

Auch darfst du nicht von andern Dingen träumen,

Du läßt den Wein im Becher sonst verschäumen.


Sie


Du läßt den Wein im Becher sonst verschäumen,

Drum darf ich längre Rede nicht erlauben.

Ich schwör' es dort bei den azurnen Räumen,

Und was ich schwöre, magst du sicher glauben:

Ich will Versäumtes länger nicht versäumen,

Und niemand wird mir diesen Vorsatz rauben;

Du sollst in dieser Kunst mich unterrichten.

Beim Wein erkenn' ich neu des Leichtsinns Pflichten.


Er


Beim Wein erkenn' ich neu des Leichtsinns Pflichten,

Die mir vor allen immer heilig waren;

Und darf ich nur der Hoffnung Anker lichten,

So werd' ich froh begrüßen die Gefahren,

Im süßen Rausch die ganze Welt vernichten,

Von ird'schem Unmut rein den Mut bewahren,

Und selig nur das Eine wünschen müssen,

Ich dürfte, Liebling, dich mit Anmut küssen.


[196] Sie


Ich dürfte, Liebling, dich mit Anmut küssen,

Und tät' es, wenn ich wüßte, was es sollte.

So treibt an Woge Wog' in wilden Flüssen,

Als ob die vor'ge jede haschen wollte,

Wie zwecklos Kuß an Kuß in Lieb' Ergüssen

Sich reiht, seit Langeweil' der Nacht entrollte.

Weißt du, mein Freund, nur diese alte Weise,

So bleiben wir im allgemeinen Gleise.


Er


So bleiben wir im allgemeinen Gleise,

Bis wir aus ihm in unser eignes lenken;

Und dies geschieht zu Zeiten auch ganz leise.

Ein Bild nur ist, um Sinn darein zu senken,

Der Kuß; drum will nach deinem Wunsch ich weise

Zur alten Sitte neuen Geist erdenken.

Wird es mich schon zu Treu und Leid betören.

Laß froh beim Kuß uns ew'ge Untreu schwören.


Sie


Laß froh beim Kuß uns ew'ge Untreu schwören,

Wo Reize locken, kindlich sie versuchen,

Des Seelchens Wünsche sorgsam zu erhören,

Im schönen Wechsel leichte Freuden suchen;

Und will der schwere Ernst die Spiele stören,

Das lange matte Einerlei verfluchen.

So werden wir denn frei und freier leben,

Bis göttlich leicht wir in den Lüften schweben.


Er


Bis göttlich leicht wir in den Lüften schweben,

Und selig zu den sel'gen Göttern kommen,

Wird oft noch Freude dir den Busen heben.

Sind nur der Treue Fesseln uns entnommen,

Ist Liebe, ewig grün, des Lebens Leben;

Und hast du, was ich scherzend bat, vernommen,

So weiß ich ferner keinen Stoff zur Klage,

Als daß zu schnell entfliehn des Frühlings Tage.


Quelle:
Friedrich von Schlegel: Dichtungen, München u.a. 1962, S. 195-197.
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