Aufruf

[238] Erhebe dich, o Mensch, vom Schwanenbette

Der Weichlichkeit, die dich entehrt!

Zerreiß die diamantne Kette,

Die deinen Geist beschwert.


Du tauchst dich immer tiefer in die Pfütze

Der thierischgroben Sinnlichkeit,

Und blinzest vor dem Zackenblitze

Der nahen Ewigkeit.[238]


Ich strecke meine Rechte in die Wolke,

(O Mitgeschaffner, höre mich!)

Und schwöre vor dem Geistervolke:

Es wartet viel auf dich!


Erst harrt auf dich der grauenvolle Alte,

Des Lebens finstrer Hasser – Tod!

Der furchtbarstumm im Hinterhalte

Aus deinem Leben droht.


Dann irrt auch deine Seele durch die Nächte

Der Todeswohnungen allein;

Du bist! Gott hält auf seine Rechte,

Und ewig wirst du seyn!


Der kalte Trost Vernichtung ist vergebens:

Du bleibst! und deiner harrt Gericht.

Vernichtung kennt der Gott des Lebens,

Der Gott der Liebe nicht.


Einst wird sein Odem Todte neu beleben;

Auch du wirst dich im Dranggewühl

Der Auferstandenen erheben

Mit höherm Seyngefühl.


Dann wirst auch du, auch du den Hochgeschmähten,

Den Hochgepries'nen richten sehn,

Vor dem der Erde Majestäten

Entthront und schweigend stehn.


Auch du wirst sehn Entwicklung der Geschichten,

Wirst's hören, wenn Messias spricht:

Ihr Menschen, eure Thaten richten,

Ich aber richte nicht.


Du siehst es mit, wenn Todesengel winken,

Und dann die Frevler tief hinab

Durch ihre eigne Schwere sinken,

Ins gluthgefüllte Grab.[239]


Auch wirst du Christus Wonnelispel hören:

(O träf' sein großes Lob auch dich!)

»Kommt her, o ihr der Menschheit Ehren,

Und setzt euch neben mich.«


Dann steht die Uhr von kleinen Erdetagen,

Die kurze Zeit ist ausgereift;

Und eine Uhr fängt an zu schlagen,

Die ohne Ende läuft.


Drum hebe dich, o Mensch, vom Erdenthale,

Verschmäh den Tand der Eitelkeit,

Und sonne dich allein im Strahle

Der nahen Ewigkeit.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 238-240.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
S Mmtliche Gedichte, Volume 1
S Mmtliche Gedichte, Volume 3
Gedichte. Aus der

Buchempfehlung

Chamisso, Adelbert von

Peter Schlemihls wundersame Geschichte

Peter Schlemihls wundersame Geschichte

In elf Briefen erzählt Peter Schlemihl die wundersame Geschichte wie er einem Mann begegnet, der ihm für viel Geld seinen Schatten abkauft. Erst als es zu spät ist, bemerkt Peter wie wichtig ihm der nutzlos geglaubte Schatten in der Gesellschaft ist. Er verliert sein Ansehen und seine Liebe trotz seines vielen Geldes. Doch Fortuna wendet sich ihm wieder zu.

56 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon