Die Erscheinung

[438] Wo find' ich den Liebling der Seele,

Den Gott mir zum Manne erkor?

Ich säng' ihm mit schallender Kehle

Dies Liedlein so gern in das Ohr!

O käm' er, wie wollt' ich ihm singen,

Dem Trauten, so lange umschlingen,

Bis innig er's fühlte, wie ich,

Gott hab' ihn geschaffen für mich.


Jüngst saß ich, vom Monde beschienen,

Am Bettlein so einsam, so leer;

Da sah ich mit freundlichen Mienen

Den Jüngling, wie Hermann war er.

Es flammte der himmlische Zunder

Der Liebe die Augen herunter,

Hoch, schlank, nicht zu weich, nicht zu wild,

War meines Erwählten Gebild.


Auch wallte die bräunliche Locke

Dem Jüngling ins schöne Gesicht.

Er redte, die silberne Glocke

Ertönet so lieblich mir nicht.

Bald fließen, so sprach sie, die Flammen

Der Herzen in einem zusammen;

Mit mächtigem Drange fühl's ich,

Gott hab' ihn geschaffen für mich.


Doch harre, die bräutliche Stunde,

Bald steigt sie von Osten herauf,

Und drückt deinem glühenden Munde

Die Küsse des Bräutigams auf.

Ach ende, du Traute, das Sehnen

Des Herzens, und spare die Thränen;

Denn alles das Deine ist mein,

Und alles das Meine ist dein.


Ich bebte, ich schwamm in Entzücken,

Ich wagt' es mit bebender Hand,

Den Jüngling an Busen zu drücken,

Doch, ach! die Erscheinung verschwand.[439]

Wo bist du nun, heiliger Schatten

Des Trauten, des zärtlichen Gatten?

Dein künftiges Weibchen sitzt hier,

Und schmachtet vergeblich nach dir.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 438-440.
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