Die Lilie

[99] Romanze.


Sei du mein Gesang, o weisse,

Heil'ge, sanfte Liebeslilge;

Wenn ich dich mit Lippen küsse

Weißt du, wie ich innig liebe.

Keiner soll die Rose schelten,

Deren süsses Blut durchdringet

Unser Blut mit froher Sehnsucht,

Zündet in dem Herzen Schimmer:

Aber wer den blauen Aether

Kannte und das Licht des Himmels,[100]

Und die stille Kraft der Wellen,

Liebt auch dich, holdsel'ge Lilge.


Unter Felsen, unter Wäldern,

In dem einsamsten Gefilde,

Wo nur heilig Rauschen wohnte,

Geister in den Quellen rieselnd

Mit den Bäumen sich besprachen

Und sich in dem Echo riefen,

Lebten zwei Geliebten glücklich,

Selig ganz in ihrer Liebe,

Aus der wüsten Welt geflohen

Fanden sie die Ruhe wieder

Und ihr Herz in Blumen, Bäumen,

Bergen und der heil'gen Stille.

Einst, als sie nach langen Küssen

Sich beglückt in Armen hielten,

Und die Blicke zu einander

Sehnsüchtig, befriedigt spielten,[101]

Blickte er in ihre Augen,

Sie in seines Herzens Tiefe,

Und so wie aus Geisterbrunnen

Stiegen beiden in die lichten

Augen auf zwei große Thränen,

Die sie fest im Zittern hielten.

Was bedeuten, sprach er seufzend,

Die Gefühle, Liebe, diese

Wehmuthsvollen süßen Thränen,

Die in Andacht du erwiederst?

Nein, ich mag sie nicht verbergen,

Gern hab' ich sie dir gewiesen,

Und die Thräne soll nicht rinnend

Aus dem Blicke niederfliessen. –

Ein Geheimniß ist es, sprach sie,

Wonach diese Wasser zielen,

Das sie gerne mit der Andacht

Wollen aus dem Herzen ziehen,

Aber schwach sind ihre Arme,[102]

Und es fällt in's Dunkle wieder,

Und ermüdet sinkt die Thräne

Ueber unsre Wange nieder. –

Also nur ist Erd' und Wasser,

Sang er, Luft, Licht und Gestirne

Aus der Sehnsucht hergequollen,

Ein Geheimniß aufzufinden:

Klar im Golde funkelt Sehnsucht,

Süß Ermatten glänzt im Silber;

Wollte sich doch deine Thräne

Auch gestalten als Erinnrung!

Ward ja aus der Fluth Geheimniß

Doch der Bau der Welt gebildet.

Süße Geister, regt euch alle,

Daß ein Sein der Thrän' entquille,

Und ein neues Gold wird leuchten

Süßer, sanfter, glänzen milder. –

Und es waren Geister nahe,

Die im Quell mit Blumen spielten,[103]

Sie erhörten das Gebet, die

Thränen sanken, Blumen fielen,

Griffen, hielten fest die Erde,

Und geheimnißvoll zwei Lilien

Sahen hin auf die Entzückten,

Inn'ger fühlten sie die Liebe.

Sanfte, goldne, silberweiße,

Also wardst du, Liebeslilge.

Quelle:
Ludwig Tieck: Gedichte. Teil 1, Heidelberg 1967, S. 99-104.
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