Rausch und Wahn

[238] Ha! welche Wesen sind es, die das Thor

Der dunkeln Ahndungen entriegeln?

Was hebt den Geist auf goldbeschwingten Flügeln

Zum sternbesäten Himmelsplan empor? –


Es schlägt der schwarze Vorhang sich zurücke,

Und wundervolle Scenen thun sich auf,

Seltsame Gruppen meinem starren Blicke:

Wie Traumerinnrung stehn sie da! mit frischem Glücke

Beginn ich froh den neuen Lebenslauf!


Ich fühle mich von jeder Schmach entbunden,

Die uns vom schönen Taumel rückwärts hält,

Die jämmerlichen Ketten sind verschwunden,

Mit Freudejauchzen stürzen goldne Stunden

Rasch auf mich ein, und ziehn mich tanzend durch die Welt.
[239]

Es sammeln sich aus den verborgnen Klüften

Die Freuden, wie Mänaden um mich her,

Es klingen ungesehne Lieder in den Lüften,

Es wogt um mich ein ungestümes Meer,

Und Töne, Jauchzen, Wonne schwebt auf Blumendüften,

Und alles stürmt um mich, ein wildes Heer.


Ich steh im glanzgewebten Feenlande,

Und sehe nicht zur dürren Welt zurück,

Es fesseln mich nicht irdischschwere Bande,

Entsprungen bin ich kühn dem meisternden Verstande,

Und taumelnd von dem neugefundnen Glück! –


Hinweg mit allen leeren Idealen,

Mit Kunstgefühl und Schönheitssinn,

Die Stümper quälen sich zu mahlen,

Und nagen an den dürren Schaalen

Und stolpern über alle Freuden hin.
[240]

Hinweg mit Kunstgeschwätz und allen Musen,

Mit Bilderwerk, leblosem Puppentand, –

Hinweg! ich greife nach der warmen Lebenshand,

Mich labt der schön geformt lebendge Busen.


Ach, alles flieht wie trübe Nebelschatten

Was ihr mit kargem Sinne schenken wollt;

Nur der besucht Elisiums schöne Matten,

Nur dem ist jede Gottheit hold,

Der keinem Sinnentrug sein Leben zollt.


Der nicht in Luftgefilden schweist,

Und sich an Dunstphantomen weidet,

Durch kranke Wehmuth und Begeistrung streift, –

Nein, der die schlanke Nimphe rasch ergreift,

Die sich zum kühlen Bad' entkleidet.
[241]

Ihm ist's vergönnt zum Himmel sich zu schwingen.

Es sinkt auf ihn der Götter Flammenschein,

Er hört das Chor von tausend Sphären klingen,

Er wagt es zum Olymp hinauf zu dringen,

Und wagt es nur, ein Mensch zu seyn.

Quelle:
Ludwig Tieck: Gedichte. Teil 2, Heidelberg 1967, S. 238-242.
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