[69] Die Insel Utopia erstreckt sich in der Mitte – wo sie am breitesten ist, – zweihunderttausend Schritte weit, eine Breite, die durch die ganze Insel nur wenig schmäler wird, und nimmt gegen die beiden Enden zu allmählich ab. Das ergibt einen Umfang von fünfhundert Meilen, bei der Gestalt des aufnehmenden Mondes, den die ganze Insel hat.

Zwischen dessen Hörnern bildet das Meer eine etwa zehn- bis elftausend Schritte breite Seebucht, die, da die Umgebung rings Land ist, die Winde abhält und wie ein nicht heftig bewegter, sondern mehr stagnirender See erscheint, wodurch der ganze Raum innerhalb dieses Beckens als eine Art Hafen sich darstellt, in dem zum großen Nutzen der Bewohner Schiffe nach allen Richtungen verkehren.

Die Einfahrt ist von der einen Seite durch Untiefen, von der andern durch Riffe zu fürchten. Ungefähr in der Mitte zwischen diesen beiden Spitzen ragt ein Felsen empor, der eben deswegen ungefährlich ist, auf den ein Thurm gebaut ist, den eine Besatzung innehat; die andern Klippen sind nicht sichtbar und bergen tückische Gefahren. Die Fahrstraßen sind nur ihnen allein bekannt, daher es nicht leicht vorkommt, daß ein Ausländer in diesen Meerbusen eindringt, wenn nicht ein Utopier den Lootsen macht. Für sie selbst sogar wäre das Einlaufen unsicher, wenn nicht gewisse Landkennungen vom Gestade aus den Fahrweg bezeichneten. Wenn diese an andre Plätze versetzt würden, so könnten sie einer beliebig großen feindlichen Flotte leicht Vernichtung bereiten.[69]

Auf der andern Seite (der Insel) sind lebhaft besuchte Häfen. Aber die Landungsplätze sind überall durch Natur oder Kunst so geschützt, daß riesige Truppenmassen von einer geringen Anzahl Vertheidiger abgewehrt werden können.

Wie übrigens berichtet wird, und wie die Gestalt des Landes selbst erkennen läßt, war dieses nicht immer rings von Wasser umgeben. Aber Utopus, dessen Name als Siegers nämlich, die Insel führt – denn früher hieß sie Abraxa – der den ländlich rauhen und rohen Stamm dahin gebracht hat, daß er an Kultur und Humanität fast allen übrigen Völkern voranleuchtet, hat, alsbald nach seinem ersten Betreten des Landes und erfolgtem Siege, auf der Seite, wo das Land mit dem Festlande zusammenhing, einen Landausstich von fünfzehntausend Schritt Breite herstellen und so das Meer ringsherum fließen lassen. Da er zur Ausführung dieses Werkes nicht nur die Eingeborenen verhalten hatte, sondern, damit diese die Arbeit nicht für einen Schimpf ansahen, überdies alle seine Soldaten daran theilnehmen ließ, so wurde das Werk, auf eine so große Menge Menschen vertheilt, in unglaublich kurzer Zeit fertig gestellt. Die Nachbarvölker (die anfangs über das Eitle dieses Unternehmens gelacht hatten) durchdrang Bewunderung über den Erfolg und Schrecken.

Die Insel hat vierundfünfzig geräumige und prächtige Städte, in Sprache, Sitten, Einrichtungen und Gesetzen übereinstimmend; sie haben alle denselben Situationsplan, soweit die besondere Oertlichkeit es zuläßt. Die einander nächsten sind vierundzwanzig Meilen von einander entfernt. Keine ist von der andern so abgelegen, daß man aus ihr nicht in einer Tagereise zu Fuß nach der andern gelangen könnte. Aus jeder Stadt kommen jährlich drei greise erfahrene Bürger in Amaurotum zusammen, um über die gemeinsamen Angelegenheiten der Insel zu verhandeln. Denn diese Stadt (gleichsam der Nabel des Landes und für die von allen Seiten kommenden Abgesandten am günstigsten gelegen) ist die erste, die Hauptstadt der Insel.

Die Aecker sind den Städten so passend zugewiesen, daß keine von keiner Seite weniger als zwanzigtausend Schritte hat, von[70] der einen oder andern auch bei weitem mehr, nämlich auf der Seite, wo die Städte am weitesten von einander abliegen.

Keine Stadt hat das Verlangen, ihre Grenzen vorzurücken, zu erweitern. Denn sie halten sich mehr für die bloßen Besteller der Ländereien, als für deren Herren.

Sie haben auf dem Lande auf allen Feldern bequem gelegene Häuser, die mit landwirthschaftlichen Geräthen wohl versehen sind. Diese werden von den Bürgern, die sich abwechselnd hinausbegeben, bewohnt. Keine ländliche Familie hat an Männern und Frauen weniger als vierzig Köpfe, außerdem zwei auf der Scholle haftende Knechte, denen allen der Hausvater und die Hausmutter vorstehen, gesetzte und gereifte Personen; je dreißig einzelnen Familien ist ein Phylarch vorgesetzt.

Aus jeder Familie kehren jährlich zwanzig Personen in die Stadt zurück, nachdem sie zwei Jahre auf dem Lande zugebracht haben. An deren Stelle rücken ebenso viele aus der Stadt nach, die von denen im Landbau unterrichtet werden, die ein Jahr auf dem Lande gewesen sind und daher in der Landwirthschaft schon ziemlich Kenntnisse erworben haben. Im nächsten Jahre müssen diese neuen Ankömmlinge wieder Andern Unterricht geben, damit nicht Alle zugleich Neulinge und unerfahren im Ackerbauwesen sind und so aus sachlicher Unkunde in der Lebensmittelversorgung Mißgriffe vorkommen. Diese Sitte, die Landbebauer fortwährend wechseln zu lassen, besteht deßwegen, damit nicht Jemand wider Willen längere Zeit in einer harten Beschäftigung auszuharren gezwungen werde; aber so Manche, denen die Erlernung des Ackerbaues der Sache selbst wegen gefällt, erwirken für sich, daß sie mehrere Jahre dabei bleiben können.

Die Ackerbauer bestellen den Grund und Boden, züchten das Vieh, machen Holz und fahren es in die Stadt, zu Wasser oder zu Lande, wo sich die beste Gelegenheit bietet. Hühner ziehen sie in großer Menge auf und zwar auf sehr sinnreiche[71] Weise. Dann die Hennen brüten ihre Eier nicht selbst aus, sondern man bringt diese dadurch zum Leben, daß eine große Menge derselben einer gewissen gleichmäßigen Wärme ausgesetzt werden; sobald nun die Küchlein aus der Schale schlüpfen, laufen sie den Menschen wie ihren Müttern nach, die sie dafür halten.

Pferde ziehen sie sehr wenig auf, und das nur wilde, und zwar bloß zu dem Zwecke, um ihre Jugend in den Reitkünsten zu üben. Denn alle Arbeit des Pflügens und Fahrens verrichten die Ochsen, die, wie sie zugeben, weniger feurigen Ungestüm haben, aber an Ausdauer den Pferden überlegen, nach ihrer Meinung nicht so vielen Krankheiten unterworfen, und mit weniger Unkosten und Mühe zu unterhalten sind, und endlich, nachdem sie ausgedient haben, noch als Nahrung sich verwenden lassen.

Saatgetreide verwenden sie nur zum Brodbacken. Denn entweder trinken sie Traubenwein, oder Apfel- und Birnmost, oder zu Zeiten auch nur lauteres Wasser, manchmal auch ein mit Honig und Süßholz, das in großer Menge dort vorkommt, gebrautes Getränk.

Obwohl sie genau ermittelt haben, wie viel Korn die Stadt und die dazu gehörige Umgebung zum Lebensunterhalte bedarf, und sie wissen es in der That ganz genau, so säen sie doch bei weitem mehr, ziehen auch mehr Vieh auf, als zu ihrem Bedarfe erforderlich ist, indem sie den Ueberschuß an ihre Grenznachbarn ablassen.

Was sie an Sachen brauchen, die auf dem Lande nicht zu haben sind, das lassen sie sich aus der Stadt geben, aus der sie es ohne allen Entgelt von der Obrigkeit geliefert erhalten. In jedem Monat gibt es einen Feiertag, an dem die Meisten von ihnen in der Stadt zusammenkommen. Sobald die Erntezeit herannaht, zeigen die Phylarchen der Ackerbauer der städtischen Obrigkeit an, wie viel Bürger ihnen als benöthigt zugeschickt werden sollen; diese Anzahl Schnitter und Erntemacher trifft am bestimmten Tage pünktlich ein und so wird bei schönem Wetter so ziemlich an einem einzigen Tage die gesammte Ernte eingeheimst.

Quelle:
Thomas Morus: Utopia. München 1896, S. 69-72.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Utopia
Utopia
Utopia: Lateinisch/Deutsch
Der utopische Staat: Utopia. Sonnenstaat. Neu-Atlantis
Utopia
Ein wahrhaft kostbares und ebenso bekömmliches wie kurzweiliges Buch über die beste Staatsverfassung und die neue Insel Utopia