12. Kapitel

Ansporn zur Arbeit und Behandlung der Arbeitsunfähigen

[101] Unendlich, wie Doktor Leetes Güte, waren die Fragen, die ich zu stellen hatte, ehe ich auch nur einen oberflächlichen Einblick in die Einrichtungen des zwanzigsten Jahrhunderts erlangen konnte. Nachdem die Damen sich zurückgezogen hatten, blieben wir darum noch mehrere Stunden plaudernd beisammen. Ich rief meinem Wirt den Punkt ins Gedächtnis zurück, bei dem unser Gespräch am Morgen abgebrochen worden war. Ich äußerte meinen Wunsch nach Aufschluß darüber, wie die Arbeit organisiert sei, damit auch jetzt der Eifer des Arbeiters angefeuert werde, wo doch jede Sorge um seinen Lebensunterhalt wegfalle.[101]

»Sie müssen zunächst wissen«, erwiderte der Doktor, »daß die Organisation unseres Arbeitsheeres nicht bloß den einen Zweck verfolgt, die Bürger durch besondere Beweggründe zu angestrengter Tätigkeit anzueifern. Ebenso wichtig ist ihr der andere Zweck: die niederen und höheren Offiziersstellen der Arbeitsarmee sowie alle hohen nationalen Ämter mit Männern von erprobter Tüchtigkeit zu besetzen, mit Persönlichkeiten, die im Bewußtsein ihrer Vertrauensstellung die ihnen Unterstehenden zu den höchstmöglichen Leistungen anhalten und keine Lässigkeit dulden. Alle arbeitspflichtigen Bürger sind im Hinblick auf diese beiden Ziele in vier große Klassen eingeteilt. Die erste Klasse umschließt die ungelernten Arbeiter, ihnen liegen allerhand Verrichtungen meist gröberer Natur ob. Alle Arbeitsrekruten werden in den ersten drei Jahren ihrer Dienstpflicht dieser Klasse eingereiht. Nachdem sie aus ihr in die nächsthöhere Klasse aufgestiegen sind, heißen sie mindestens ein Jahr lang ›Lehrlinge‹, weil sie sich in der Zeit die Elementarkenntnisse ihres erwählten Berufs aneignen. Die dritte Klasse stellt das Korps der eigentlichen Vollarbeiter dar, das aus Leuten im Alter zwischen fünfundzwanzig und fünfundvierzig Jahren besteht. Die vierte Klasse wird durch die Offiziere gebildet, vom niedrigsten an bis zum höchsten hinauf. Jede dieser vier Klassen untersteht einer besonderen Disziplin. Die Klasse der ungelernten Arbeiter wird als eine Art Schule betrachtet, und zwar als eine sehr strenge Schule. Hier werden die jungen Leute an Gehorsam, Unterordnung und Pflichtgefühl gewöhnt. Die Verschiedenartigkeit der Arbeiten, denen sie sich zu unterziehen haben, erlaubt kein regelmäßiges Emporsteigen zu höheren Unterabteilungen, wie dies innerhalb der übrigen Klassen möglich ist. Trotzdem wird aber über die Leistungen jedes einzelnen Buch geführt, die Tüchtigkeit erhält ihre Auszeichnung, die Lässigkeit findet ihre Strafe. Wir halten es jedoch nicht für ratsam, die künftige Laufbahn junger Leute ungünstig zu beeinflussen, wenn sie sich in jugendlicher Sorglosigkeit und Unbesonnenheit leichte Fehler zuschulden kommen lassen. Alle Bürger sind berechtigt, sich den Lebensberuf zu wählen, für den sie die stärkste Neigung empfinden, nachdem sie erst die Klasse der ungelernten Arbeiter durchlaufen haben, ohne daß sie sich eines schwerwiegenden Vergehens schuldig machten. Haben sie ihre Entscheidung getroffen,[102] so beginnt ihre Lehrzeit in dem Beruf. Die Länge ist natürlich für die verschiedenen Zweige menschlicher Tätigkeit eine verschiedene. Nach Ablauf der Lehrzeit wird der Lehrling zum Vollarbeiter und selbständigen Mitglied seines Berufs. Über die Leistungen jedes Lehrlings wird ein besonderes Buch geführt; hier werden Begabung, Geschick und Fleiß genau vermerkt, ungewöhnliche Tüchtigkeit findet durch Auszeichnung ihren Lohn. Von dem Durchschnitt der Noten während der Lehrzeit hängt der Rang ab, den der Lehrling bei seiner Aufnahme unter die Vollarbeiter erhält.

Die innere Organisation der einzelnen Zweige industrieller und landwirtschaftlicher Tätigkeit ist selbstredend je nach den besonderen Eigentümlichkeiten und Bedingungen eine verschiedene. Jedoch stimmt sie mit der allgemeinen Klassifizierung der Arbeiter darin überein, daß diese je nach ihrem Können in solche ersten, zweiten und dritten Grades eingeteilt sind. In vielen Berufen zerfallen diese Grade noch in eine erste und zweite Unterklasse, so daß wir dann sechs verschiedene Rangstufen der Leistungsfähigkeit haben. Natürlich werden nur junge Leute von ungewöhnlicher Begabung und Tüchtigkeit aus Lehrlingen sogleich zu Vollarbeitern ersten Grades. Die meisten werden nach Ablauf der Lehrzeit den unteren Graden zugewiesen. Erst nachdem sie leistungsfähiger geworden sind, treten sie bei periodisch wiederkehrenden neuen Feststellungen der Rangordnung in höhere Klassen ein. Diese Festsetzungen erfolgen in jedem Beruf nach Zwischenräumen, die der Länge der Lehrzeit entsprechen. Das Verdienst braucht also nicht lange zu warten, bis es emporsteigt, und niemand kann auf seinen bisherigen Leistungen ausruhen, wenn er nicht zu einem niederen Rang hinabsinken will. Ein besonderer Vorzug der Vollarbeiter eines hohen Grades besteht in dem Rechte, sich innerhalb ihrer Berufe eine Spezialität auswählen zu dürfen. Obgleich keine der Verrichtungen ungewöhnlich schwer und schwierig sein soll, so sind sie doch ihrer Natur nach sehr verschieden: das Recht ist daher hochgeschätzt, sich unter ihnen eine besondere Spezialität auszuwählen. Gewiß suchen wir soviel wie möglich auch die Neigungen des schlechtesten Arbeiters zu berücksichtigen, wenn wir ihm Beschäftigung zuweisen. Denn dadurch wird nicht nur sein Glück erhöht, sondern auch[103] der Nutzen, den er der Gesellschaft bringt! Allein die Wünsche von Arbeitern der niederen Grade können erst Berücksichtigung finden, wenn die Arbeiter höherer Klassen angemessene Beschäftigung gefunden haben. Die ersteren müssen sich mit einer Tätigkeit zufrieden geben, die ihnen erst in zweiter oder dritter Linie zusagt; ja, wenn es nötig sein sollte, so wird ihnen sogar ohne weiteres eine bestimmte Arbeit übertragen. Das Recht zur Wahl einer Berufsspezialität tritt bei jeder Feststellung der Rangordnung in Kraft. Wer seinen Grad verliert, läuft gleichzeitig auch Gefahr, eine zusagende Art der Beschäftigung mit einer anderen vertauschen zu müssen, die ihm weniger behagt. Die Ergebnisse jeder neuen Rangordnung in den einzelnen Berufen werden in den Amtsblättern bekanntgegeben. Bürger, die zu höheren Graden emporgestiegen sind, erhalten den Dank der Nation und werden öffentlich mit dem Abzeichen ihres neuen Ranges belohnt.«

»Was sind das für Abzeichen?« fragte ich.

»Jeder Beruf hat sein besonderes Sinnbild«, versetzte Doktor Leete. »Es hat die Form einer Medaille, die so klein ist, daß man sie übersehen kann, wenn man nicht weiß, an welcher Stelle sie zu suchen ist. Sofern nicht im Interesse der Allgemeinheit eine besondere Uniform nötig ist, tragen die Angehörigen des Arbeitsheeres kein anderes Abzeichen als diese Medaille. Sie hat für alle Rangstufen eines Berufs die gleiche Form, aber während das Abzeichen des dritten Grades von Eisen ist, besteht das des zweiten aus Silber und das des ersten aus Gold.

Ein gewaltiger Antrieb zu den bestmöglichen Leistungen besteht darin, daß die hohen staatlichen Vertrauensposten nur von Männern bekleidet werden können, die Arbeiter ersten Grades gewesen sind. Anspornend wirkt auch, daß der Rang im Arbeitsheer die einzige gesellschaftliche Auszeichnung ist, die die Mehrzahl jener Bürger erreichen können, die sich nicht der Literatur, Kunst oder Wissenschaft widmen. Aber hiervon abgesehen, werden unsere Bürger noch durch andere, gröbere, aber nicht weniger wirksame Mittel angefeuert, ihr Bestes zu geben: durch. Vorteile und Freiheiten, deren sich die Arbeiter höherer Grade erfreuen. Obgleich solche Vorrechte nicht so bedeutend sind, daß sie den Neid der minder erfolgreichen Bürger erwecken könnten, lassen sie es doch jedermann[104] empfinden, wie wünschenswert es ist, den nächsthöheren Grad zu erhalten.

Es ist offenbar wichtig, daß nicht nur die guten, sondern auch die mittelmäßigen und schlechteren Arbeiter den Ehrgeiz nähren können, zu höheren Graden emporzusteigen. Und da die Anzahl der letzteren bei weitem überwiegt, so ist es viel wichtiger, daß unsere Rangordnung mehr darauf hinwirkt, sie nicht zu entmutigen, als die besseren Arbeiter anzufeuern. Zu diesem Zwecke sind die Grade – wie bereits erwähnt – in Unterklassen eingeteilt. Bei jeder neuen Klassifizierung werden jedem Grade wie jeder Unterabteilung die gleiche Anzahl von Arbeitern zugewiesen. Nach Abrechnung der Offiziere, ungelernten Arbeiter und Lehrlinge kann daher niemals mehr als der neunte Teil des Arbeitsheeres der untersten Stufe angehören, und dieser neunte Teil rekrutiert sich in der Hauptsache aus Leuten, die erst kürzlich ihre Lehrzeit beendet haben und zu höherem Range emporzusteigen hoffen. Nur ein verschwindend kleiner Bruchteil des Arbeitsheeres besteht aus Leuten, die ihre ganze Dienstzeit hindurch in der untersten Klasse verbleiben, und man darf wohl behaupten, daß ihre gesellschaftliche Stellung sie weder bekümmert, noch daß sie die Fähigkeit besitzen, sie zu verbessern.

Ein Arbeiter braucht nicht einmal zu einem höheren Grad aufzusteigen, um eine Ahnung davon zu bekommen, was Ruhm ist. Zwar kann der Dienstpflichtige nur befördert werden, wenn ein allgemein günstiges Zeugnis über seine Tätigkeit vorliegt, allein es werden ihm auch lobende Erwähnungen ohne Rangerhöhung zuteil. Ferner belohnt man auch einzelne besonders tüchtige Leistungen in den verschiedenen Berufen durch ehrenvolle Auszeichnungen und mannigfache Preise. Nicht nur innerhalb der Grade, auch innerhalb der Unterabteilungen gibt es viel kleinere Rangabstufungen, von denen jede eine Gruppe von Berufstätigen zu möglichst vorzüglichen Leistungen anspornt. Unsere Gesellschaft legt Gewicht darauf, daß keinem Verdienst, und sei es noch so klein, ganz die ihm gebührende Anerkennung versagt bleibt.[105]

Die Disziplin des Arbeitsheeres ist viel zu streng, als daß wirklich nachlässige, positiv schlechte Arbeit oder offenbare Trägheit von solchen Bürgern geduldet werden könnte, die höherer Beweggründe nicht fähig sind. Wer seiner Dienstpflicht genügen kann, sich aber hartnäckig weigert, sie zu erfüllen, wird von aller menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen.3

Die niedrigsten Offiziere unseres Arbeitsheeres, die Hilfswerkführer oder Leutnante, werden aus der Zahl derer genommen, die sich zwei Jahre lang in der obersten Abteilung des ersten Grades bewährt haben. Wenn ihre Zahl die der offenen Offiziersstellen bedeutend übersteigt, so ist nur die erste Gruppe der Klasse wählbar. Solcherart kommt niemand vor seinem dreißigsten Lebensjahr dazu, anderen zu befehlen. Ist jemand Offizier geworden, so hängt seine weitere Beförderung natürlich nicht mehr von der Vorzüglichkeit seiner eigenen Arbeit ab, sondern von der seiner Untergebenen. Die Werkführer werden aus der Klasse der Hilfswerkführer genommen, und zwar aus einer beschränkten Zahl von ihnen; bei ihrer Wahl wird die größte Vorsicht beobachtet. Die Ernennung zu den übrigen höheren Graden erfolgt nach einem anderen Prinzip. Es würde aber zu viel Zeit in Anspruch nehmen, Ihnen das jetzt zu erklären.

Bei den vielen kleinen Betrieben Ihrer Zeit würde sich die beschriebene Einteilung der Berufstätigen als undurchführbar erwiesen haben. Manche davon beschäftigten ja so wenig Arbeiter, daß auf jede von unseren Klassen kaum ein Mann entfallen wäre! Sie dürfen bei dem allem das eine nicht vergessen: unsere nationale Arbeitsorganisation hat zur Voraussetzung, daß alle Zweige des Wirtschaftslebens in großem Maßstab betrieben werden und wahre Armeen von Arbeitskräften beschäftigen. Hunderte von Ihren landwirtschaftlichen oder industriellen Betrieben sind bei uns zu einem einzigen vereinigt. Die Oberinspektoren unseres Arbeitsheeres gleichen den Obersten, ja den Generälen Ihrer zeitgenössischen Armeen. Weil wir alle Zweige des Wirtschaftslebens nach großem Maßstab organisiert haben und in allen Landesteilen vorzügliche Betriebe nebeneinander besitzen, vermögen wir durch Stellenaustausch[106] und Versetzungen jedem die Art von Beschäftigung zu vermitteln, in der er das Beste leistet.

Und nun, Herr West, kennen Sie in allgemeinen Umrissen die Organisation unseres Arbeitsheeres. Entscheiden Sie selbst, ob diese nicht wirksame Antriebe für Menschen auslöst, die eines besonderen Ansporns bedürfen, um ihr Bestes zu leisten! Ehemals waren die Menschen gezwungen, zu arbeiten, mochten sie wollen oder nicht. Scheint es Ihnen aber nicht, daß sie auch unter der heutigen Ordnung hinreichend zu möglichst vollendeten Leistungen angefeuert werden?«

Ich erwiderte, mir schiene nur ein einziges Bedenken gegen die gebräuchlichen Mittel zu sprechen, die höchste Leistungstüchtigkeit zu wecken: sie müßten allzu stark wirken und einen allgemeinen leidenschaftlichen Wetteifer der jungen Leute entfesseln. Und ich nehme mir die Freiheit, heute hinzuzusetzen, daß dies meine Meinung geblieben ist, auch nachdem mich ein längerer Aufenthalt in der neuen Gesellschaft mit ihren Einrichtungen eingehend vertraut gemacht hat.

Doktor Leete gab mir jedoch einiges zu bedenken, und ich gestehe gern zu, daß seine Darlegungen meinen Einwand vielleicht entkräften. Er machte geltend, daß die Arbeiter im zwanzigsten Jahrhundert für ihre Existenzmittel ganz und gar nicht von ihrem Range abhängen, und daß folglich die Sorge um sie Enttäuschungen bei der Berufstätigkeit nicht bitterer machen kann. Ferner, daß die Arbeitsstunden kurz sind, die Ferien regelmäßig, und daß aller Wetteifer mit dem fünfundvierzigsten Jahre aufhört, also schon in der Mitte des Lebens.

»Um Mißverständnissen vorzubeugen«, setzte Doktor Leete hinzu, »muß ich noch zwei oder drei Punkte aufhellen. Unsere Arbeitsorganisation räumt zwar dem besseren Arbeiter einen Vorzug vor dem weniger guten ein, allein das widerstreitet durchaus nicht dem Grundprinzip unserer Gesellschaftsordnung, daß das Verdienst aller Personen gleich groß ist, die ihr Bestes leisten, mag nun dieses Beste groß oder klein sein. Ich habe Ihnen gezeigt, daß unsere Organisation sowohl Schwache wie Starke durch die Hoffnung auf Beförderung anfeuert. Daß die leitenden Stellungen mit den Leistungsfähigeren besetzt werden, bedeutet keineswegs[107] eine Zurücksetzung, einen Makel für die Schwächeren. Es ist dies nur eine Maßregel, die vom allgemeinen Wohl gefordert wird.

Weiter dürfen Sie nicht übersehen, daß wir wohl dem spornenden Wetteifer freies Spiel lassen, ihn jedoch nicht als eine Triebkraft betrachten, deren edlere Naturen bedürfen, und die ihrer würdig ist. Diese finden die Beweggründe ihres Handelns in sich und nicht außer sich; sie bemessen ihre Pflicht nach ihrer eigenen Begabung, nicht nach der ihrer Nächsten. Solange ihre Leistungen ihren Kräften ebenbürtig sind, würden sie es für widersinnig halten, Lob oder Tadel zu erwarten, weil das Ergebnis zufälligerweise gut oder schlecht ausgefallen ist. Solchen Naturen erscheint der Wetteifer vom philosophischen Standpunkt aus als töricht, vom moralischen als verächtlich. Verdrängt er doch in unserem Empfinden über die Erfolge oder Mißerfolge unserer Nächsten die Bewunderung durch Neid, das teilnehmende Bedauern durch egoistisches Frohlocken.

Aber selbst im letzten Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts haben sich nicht alle Menschen zu dieser Gesinnung emporgeschwungen. Daher müssen die übrigen zu möglichst vollkommenen Leistungen durch Mittel angefeuert werden, die ihrer gröberen Natur angemessen sind. Für sie soll der feurigste Wetteifer ein beständiger Ansporn sein. Wer dieses Ansporns bedarf, wird ihn fühlen, wer über ihn erhaben ist, bedarf seiner nicht.

Ich darf nicht vergessen, eines zu erwähnen«, fuhr Doktor Leete fort. »Es besteht bei uns eine besondere Klasse für die Betätigung von Leuten, die geistig oder körperlich zu schwach sind, als daß sie billigerweise in das Hauptheer der Arbeiter eingereiht werden könnten. Sie hat keinen Zusammenhang mit den übrigen Abteilungen der Arbeitsarmee. Es ist dies eine Art Invalidenkorps, dessen Mitgliedern leichtere Arbeiten angewiesen werden, die ihren Kräften entsprechen. Alle unsere körperlich oder geistig Kranken, unsere Taubstummen, Blinden, Lahmen und Krüppel, ja sogar unsere Wahnsinnigen gehören diesem Invalidenkorps an und tragen seine Abzeichen. Die Stärksten von ihnen leisten oft fast volle Arbeit, die Schwächsten dagegen natürlich gar nichts, aber die Arbeit ganz aufgeben will niemand von ihnen, der irgend etwas nützen[108] kann. In ihren lichten Augenblicken beeifern sich sogar unsere Irren, zu tun, was sie nur können.«

»Die Idee des Invalidenkorps ist wirklich vortrefflich«, sagte ich. »Sogar ein Barbar des neunzehnten Jahrhunderts muß das einsehen. Das Invalidenkorps bedeutet eine außerordentlich schöne Form, die Mildtätigkeit zu verhüllen; die Gefühle der Empfänger müssen recht wohltuend davon berührt werden.«

»Die Mildtätigkeit!« wiederholte Doktor Leete. »Glauben Sie vielleicht, daß wir die Untauglichen als Objekte für unser Wohltun betrachten?«

»Nun natürlich«, sagte ich, »denn sie sind doch nicht fähig, sich ihren Unterhalt aus eigener Kraft zu sichern.«

Kaum hatte ich diese Bemerkung fallen lassen, als mich auch schon der Doktor lebhaft unterbrach.

»Wer ist denn fähig, seinen Unterhalt aus eigener Kraft zu sichern?« fragte er. »In einer zivilisierten Gesellschaft gibt es nichts dergleichen wie eine Existenz aus eigener Kraft. Auf einer Kulturstufe, die so barbarisch ist, daß sie noch nicht einmal ein Zusammenwirken der Familienglieder kennt, kann möglicherweise jeder einzelne sich aus eigener Kraft erhalten, obwohl auch dann nur während eines Abschnitts in seinem Leben. Jedoch die Existenz der einzelnen aus eigener Kraft wird ein Ding der Unmöglichkeit von dem Augenblick an, wo die Menschen anfangen zusammenzuleben und auch nur die roheste Art einer Gesellschaft zu begründen. Mit der steigenden Kultur und der zunehmenden Arbeitsteilung wird eine vielverschlungene gegenseitige Abhängigkeit der Menschen voneinander zur allgemeinen Regel. Mag auch die Betätigung des einzelnen noch so in sich abgeschlossen erscheinen: jeder ist ein Glied einer unendlich großen wirtschaftlichen Gemeinschaft, die die ganze Nation, ja die ganze Menschheit umfaßt. In diesem Zusammenhang ist eine gegenseitige Abhängigkeit aller Menschen untereinander begründet, die die Erfüllung der Pflicht gegenseitiger Unterstützung verbürgen sollte. Daß dies zu Ihrer Zeit keineswegs der Fall war, darin bestand die eigentliche Grausamkeit und Unvernunft Ihrer damaligen Gesellschaftsordnung.«[109]

»Das mag alles seine Richtigkeit haben«, versetzte ich, »es besagt jedoch gar nichts über das Recht jener Unglücklichen, die unfähig sind, ihr Teil zur allgemeinen gesellschaftlichen Arbeit beizutragen.«

»Habe ich Ihnen heute morgen nicht erklärt, es scheint mir wenigstens so«, erwiderte Doktor Leete, »daß das Recht jedes einzelnen auf seinen Platz am Tische der Nation in einer einzigen Tatsache beruht? Nämlich darin, daß er ein Mensch ist und der Gemeinschaft gibt, was er zu geben vermag! Das Maß seiner Kraft und Fähigkeit kann dabei nicht entscheidend sein.«

»Das sagten Sie mir allerdings«, antwortete ich, »allein ich nahm an, dieser Grundsatz gelte nur für Arbeiter von verschiedenem Leistungsvermögen. Hat er denn auch für Leute Geltung, die gar nichts leisten können?«

»Sind sie nicht auch Menschen?« fragte der Doktor zurück.

»Ich soll Sie also dahin verstehen, daß Lahme, Blinde, Kranke und Gebrechliche ebensogut gestellt sind wie die leistungsfähigsten Arbeiter und dasselbe Einkommen wie sie beziehen?«

»Gewiß«, lautete die Antwort.

»Die Vorstellung einer so grenzenlos weitherzigen Wohltätigkeit hätte unsere schwärmerischsten Philanthropen starr vor Staunen gemacht«, versetzte ich.

»Wenn Sie daheim einen kranken, arbeitsunfähigen Bruder hätten«, sagte Doktor Leete, »würden Sie ihn wohl armseliger nähren, kleiden und wohnen lassen als sich selbst? Im Gegenteil! Ich halte es für weit wahrscheinlicher, daß Sie danach trachten würden, ihm das Beste zu bieten. Es wird Ihnen nicht im Traume einfallen, Ihre Handlungsweise Wohltätigkeit zu nennen. Ja, noch mehr, Sie würden es mit Entrüstung zurückweisen, wollte jemand dieses Wort auf Ihr Handeln anwenden.«

»Natürlich«, sagte ich, »nur vergessen Sie, daß beide Fälle einander nicht gleich sind. Ohne Zweifel sind in einem gewissen Sinne alle Menschen Brüder, aber diese allgemeine Bruderschaft kann wohl nur für rhetorische Zwecke mit der Bruderschaft des Blutes verglichen werden. Sie hat mit ihr weder die Gefühle noch die Verpflichtungen gemein.«[110]

»Aus Ihnen spricht das neunzehnte Jahrhundert!« rief Doktor Leete aus. »Ja, Herr West, es unterliegt keinem Zweifel, daß Sie sehr lange geschlafen haben. Wenn ich Ihnen in einem Satze den Schlüssel zu dem Unbegreiflichen geben sollte, das für einen Mann Ihrer Zeit in unserer Kultur liegen muß, so würde ich sagen: Für Sie war die Tatsache der Solidarität und Brüderlichkeit der ganzen Menschheit nur eine schöne Phrase. Uns dagegen ist sie in Fleisch und Blut übergegangen. Für unser Denken und Fühlen schafft sie ebenso wirkliche und starke Bande wie die Blutsverwandtschaft selbst.

Doch selbst wenn ich von dieser Erwägung absehe, kann ich Ihre Überraschung nicht begreifen, daß Arbeitsunfähigen das volle Recht zusteht, von den Erzeugnissen der Leistungstüchtigen zu leben. Die militärische Dienstpflicht Ihrer Zeit zum Schutze der Nation entsprach unserer Arbeitspflicht. Obwohl sie für alle Wehrtüchtigen zwingend war, begriff sie keineswegs in sich, daß die Dienstuntauglichen ihrer Bürgerrechte beraubt wurden. Sie blieben zu Hause und wurden von denen beschützt, die in den Kampf zogen, ohne daß deswegen jemand ihr Existenzrecht in Frage stellte oder geringer von ihnen dachte. Die Nutzanwendung für unseren Fall liegt nahe. Wenngleich sich alle arbeitsfähigen Glieder der Nation der allgemeinen Arbeitspflicht unterwerfen müssen, so bedeutet das doch nicht, daß Arbeitsunfähige ihres Bürgerrechts verlustig gehen, und dieses begreift das Recht auf Unterhalt in sich. Der Arbeiter ist nicht Bürger, weil er arbeitet, sondern er arbeitet, weil er Bürger ist. Wie man zu Ihrer Zeit die Pflicht des Starken anerkannte, für den Schwachen zu kämpfen, so anerkennen wir jetzt, wo aller Kampf vorbei ist, seine Pflicht, für ihn zu arbeiten.

Die Lösung einer Frage, die einen nicht aufgehenden Rest übrigläßt, ist überhaupt keine Lösung. Auch unsere Lösung des sozialen Problems wäre keine solche, wenn sie es den Lahmen, Blinden und Krüppeln überließe, sich wie wilde Tiere durchzuschlagen, so gut es eben ginge. Es würde wahrhaftig noch besser sein, die Gesunden und Starken sich selbst zu überlassen, als diese Mühseligen und Beladenen, für die jedes Herz blutet und für deren körperliches und geistiges Wohlbefinden vor allem gesorgt werden muß. Das Recht jedes Mannes, jedes Weibes und jedes[111] Kindes auf volle Existenzmittel durch die Gesellschaft beruht auf der sicheren, breiten und einfachen Grundlage der Tatsache, daß sie alle Glieder der einen großen menschlichen Familie sind. In unserer Gesellschaft gibt es eine einzige gangbare Münze: Gottes Ebenbild zu sein. Wer das ist, mit dem teilen wir alle Errungenschaften unserer Kultur.

Meinem Empfinden nach ist es der abstoßendste Zug in der Kultur Ihrer Zeit, daß die Schwächsten und Fürsorgebedürftigsten vernachlässigt wurden. Nehmen wir an, daß Ihren Zeitgenossen das Gefühl des Mitleids und der Brüderlichkeit fremd war. Hatten sie dann aber kein Verständnis dafür, daß sie die Schwachen ihres guten Rechts beraubten, indem sie nicht für sie sorgten?«

»Ich kann Ihnen bei diesem Gedankengang nicht folgen«, sagte ich. »Wohl gebe ich den Anspruch der armen Arbeitsunfähigen auf unser Mitgefühl zu. Allein ich kann nicht begreifen, daß Leistungsunfähige einen Anteil an den Früchten der nationalen Arbeit als ihr gutes Recht fordern sollen.«

»Wie kam es denn«, fragte Doktor Leete, »daß die Arbeiter Ihrer Zeit mehr zu produzieren vermochten als eine gleich große Anzahl von Wilden? War es nicht einzig und allein darum möglich, weil sie die Kenntnisse und Errungenschaften vergangener Geschlechter geerbt hatten, weil sie den ganzen gesellschaftlichen Mechanismus fix und fertig überkamen, der das Werk von Jahrtausenden war? Wie gelangten sie in den Besitz der Kenntnisse und des Mechanismus, dem sie neun Zehntel vom Wert ihres Arbeitsproduktes verdankten? Sie hatten beides geerbt, nicht wahr? Und waren nicht die unglücklichen und gebrechlichen Brüder, die sie von sich stießen, ihre gleichberechtigten Miterben? Was haben sie mit dem Erbteil getan? Machten sie sich keines Raubes schuldig, wenn sie Leute mit Brosamen abspeisten, die das Recht hatten, unter den Erben zu sitzen, und fügten sie dem Raube nicht noch den Schimpf hinzu, wenn sie diese Brosamen Almosen nannten?«

»O Herr West«, fuhr Doktor Leete fort, als ich nicht antwortete, »eines kann ich nicht verstehen, selbst wenn ich von allen Gründen der Gerechtigkeit und dem Gefühl brüderlicher Liebe für alle Gebrechlichen und Schwachen absehe! Wie war es nur möglich, daß die Arbeiter Ihrer Zeit[112] voller Freudigkeit an ihr Werk gingen, da sie doch wußten, daß ihre Kinder und Kindeskinder, falls auf diese das harte Los fiel, schwach und gebrechlich zu sein, alle Annehmlichkeiten des Lebens, ja sogar die notwendigsten Existenzmittel entbehren mußten? Es ist mir unverständlich, wie Eltern für eine Gesellschaftsordnung eintreten konnten, die dem Fähigeren einen Vorzug vor dem körperlich oder geistig Minderbegabten einräumte. Was dem Vater zum Vorteil gereichte, verurteilte möglicherweise den Sohn zur Bettelarmut. Warum? Lediglich weil dieser vielleicht schwächer als andere war. Ich habe nie den Mut der damaligen Eltern begreifen können, Kinder zu hinterlassen.«

Anmerkung. Doktor Leete hatte in seinem Gespräch am vergangenen Abend nachdrücklichst betont, wie angelegentlich man danach strebe, daß jedermann seine natürlichen Anlagen kennenlerne und nach ihnen seinen Beruf wähle. Doch erst nachdem ich erfahren hatte, daß das Einkommen aller Berufstätigen gleich groß sei, ward es mir klar, mit welcher Sicherheit man darauf rechnen könne, daß jeder einzelne von seinem Rechte Gebrauch machen werde, sich das Geschirr zu wählen, in dem er am leichtesten und tüchtigsten zu ziehen vermöge. Daß es zu meiner Zeit nicht möglich war, in systematischer und wirksamer Weise die natürlichen Anlagen der Menschen zu entwickeln und in einem praktischen, künstlerischen oder gelehrten Beruf zur Blüte zu bringen, war nicht nur ein großer Verlust für die Gesellschaft, sondern auch eine der häufigsten Ursachen persönlichen Unglücks. Der Theorie nach waren zwar meine Zeitgenossen frei, sich eine beliebige Beschäftigung zu wählen. In Wirklichkeit jedoch entschlossen sie sich nicht frei für einen Beruf, sondern wurden durch die Verhältnisse zu Beschäftigungen gezwungen, in denen sie verhältnismäßig nur wenig leisten konnten, weil sie der dazu erforderlichen natürlichen Anlagen ermangelten. Die Reichen hatten in dieser Beziehung nur wenig vor den Armen voraus. Die Armen waren allerdings im allgemeinen jeder Gelegenheit zur Ausbildung ihrer Gaben beraubt. Sie konnten meist nicht einmal zum klaren Bewußtsein ihrer natürlichen Anlagen kommen. Selbst aber wenn dies der Fall war, verhinderte die Armut, sie durch sorgfältige Pflege zu entwickeln. Wenn nicht ein günstiger Zufall half, so blieben den Unbemittelten alle Berufe verschlossen,[113] die eine höhere Bildung voraussetzten, und dies nicht nur zu ihrer eigenen großen Benachteiligung, sondern auch zum Schaden der Nation. Die Wohlhabenden verfügten wohl über alle Bildungsgelegenheiten und Bildungsmittel, allein sie wurden durch die sozialen Vorurteile an einer freien Berufswahl gehindert. Die Vorurteile verboten ihnen, ein Handwerk zu erlernen, wenn sie zehnmal dafür veranlagt gewesen wären. Sie zwangen sie, sich einem höheren Beruf zu widmen, mochten sie für ihn befähigt sein oder nicht. So ist der Gesellschaft gar mancher treffliche Handwerker verloren gegangen! Eine weitere ungeheuerliche Verwüstung und Vergeudung von Begabung wurde durch pekuniäre Erwägungen verschuldet. Sie verleiteten Leute, reichlich lohnende Beschäftigungen zu wählen, für die sie durchaus nicht befähigt waren, anstatt weniger einträgliche Berufe zu ergreifen, für die sie natürliche Begabung besaßen. Das alles hat sich nun gründlich geändert. Gleiche Bildungsangelegenheiten müssen heutzutage notwendigerweise alle Anlagen und Fähigkeiten jedes einzelnen enthüllen, der dann weder durch soziale Vorurteile noch durch Rücksicht auf das Einkommen daran gehindert wird, seinen Lebensberuf vollständig frei zu wählen.

3

In einer der verschiedenen Ausgaben von Bellamys »Rückblick« heißt es: »Wer sich hartnäckig weigert, seine Arbeitspflicht zu erfüllen, wird zu Einzelhaft bei Wasser und Brot verurteilt.« (Clara Zetkin.)

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 101-114.
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