Der Waadtländer Schild

[323] Erinnerung an Ferdinand Flocon1


1859


An der Brücke zu Lausanne

Hängt der Wappenschild von Waadt,

Darauf »Vaterland und Freiheit«

Froh das Volk geschrieben hat.

Erzgegossen glänzt das Wappen,

In der Sonne strahlt die Schrift;

Also schrieb man in Helvetien,

Und von Eisen war der Stift!


Sieh! im regen Brückenwandel

Malet sich ein schönes Bild:

Liebend hebt ein kleines Dirnchen

Seinen Bruder vor den Schild,

Lehrt ihn schreiben jene Worte:

»Freiheit und das Vaterland!«

Und sie führt des Knäbleins Finger

Mit der wenig größern Hand.


Und sie lenkt den zarten Finger

Am Metall hinauf, hinab,

An den sonndurchglühten Zeichen,

Die das große Rom uns gab.

Und wie von der Kinder Locken

Gold in Gold zusammenfließt,

Von der Wangen Freudenröte

Ros' an Rose blühend sprießt.
[324]

Aber auf derselben Brücke

Geht ein einsam fremder Mann,

Wandelt mit ergrautem Haare

Still und kühl in Acht und Bann;

Er gewahrt das Spiel der Kleinen,

Rascher fließt sogleich sein Blut,

Doch um schmerzlich nur zu klagen

Um verlornes höchstes Gut:


»Welche Worte seh ich schreiben

Hier die Unschuld und das Glück!

Wehvoll wenden sie mein Sehnen,

Frankenland! zu dir zurück:

Was mir dort in Blut und Greuel,

Im Verrat zusammenbrach,

Lehret hier ein Kind das andre,

Singt der Vogel auf dem Dach!


Ist denn euer Himmel blauer,

Schweizer! goldner euer Korn?

Sind denn lautrer eure Brunnen,

Eure Rosen ohne Dorn?

Glück und Unschuld, ach! sie bauen

Wohl allein der Freiheit Reich!

Ob ihr schuldlos seid – nicht weiß ich's –

Doch gesegnet seh ich euch!«


Fußnoten

1 Französischer Republikaner, 1848 Mitglied der provisorischen Regierung, lebte seit dem Staatsstreich von 1852 im schweizerischen Exil und starb in Lausanne. Er war es, der auf der Brücke die zwei Kinder sah.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 323-325.
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