Melancholie

[236] Sei mir gegrüßt, Melancholie,

Die mit dem leisen Feenschritt

Im Garten meiner Phantasie

Zu rechter Zeit ans Herz mir tritt!
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Die mir den Mut, wie eine junge Weide,

Tief an den Rand des Lebens biegt,

Doch dann in meinem bittren Leide

Voll Treue mir zur Seite liegt!


Die mir der Wahrheit Spiegel hält,

Den düster blitzenden, empor,

Daß der Erkenntnis Träne schwellt

Und bricht aus zagem Aug hervor.

O strenge Rache nimmst du Dunkle immer,

Wenn ich dich mehr und mehr vergaß

Ob lärmendem Geräusch und Flimmer,

Die doch an meiner Wiege saß!


Es hängt mein Herz an eitler Lust

Und an der Torheit dieser Welt;

Oft mehr als eines Weibes Brust

Ist es von Außenwerk umstellt!

Und selbst den Trost, daß ich aus eignem Streben,

Daß alles nichtig ist, erkannt,

Nimmst du und hast mein stolz Erheben

Zu Boden alsobald gewandt,


Wenn du mir lächelnd zeigst das Buch

Des Königs, den ich oft verhöhnt,

Aus dem es, wie von Erz ein Fluch:

Daß alles eitel sei! ertönt.

Und nah und ferne hör ich dann erklingen

Gleich Narrenschellen ein Getön –

O Göttin, laß mich dich umschlingen,

Nur du, nur du bist wahr und schön!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 236-237.
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