Der trunkene Gott

[125] Weiße Marmorstufen steigen

Durch der Gärten laub'ge Nacht,

Schlanke Palmenfächer neigen

In des Himmels blaue Pracht.

Über Tempeln, Hainen, Grüften

Zecht in abendweichen Lüften

Alexanders Lieblingsschar;

Knieend bietet ihm ein Knabe,

Daß der Erde Herr sich labe,

Wein in edler Schale dar.


Herrlich ist's, den Wein zu schlürfen,

Lagernd in der Götter Rat,

Zwischen schwelgenden Entwürfen

Und der wundergleichen Tat!

Goldne Becher überquellen,

Ruhmesgeister mit den hellen[125]

Helmen tauchen aus der Flut –

Goldne Schalen überschäumen,

Geister, die gebunden träumen,

Steigen auf in Zornesglut.


Kleitos neben Philipps Sohne

Furcht die Stirne kummervoll,

Der benarbte Mazedone

Schlürft im Weine Gram und Groll:

Er gedenkt der Heergenossen,

Die die erste Phalanx schlossen

In den Bergen kühl und fern –

Seinen dunkeln Mut zu kränken

Lüstet es den schönen Schenken

Lagernd an dem Knie des Herrn.


Die erhabne Stirn und Braue

Träumt den Zug ins Inderland,

Lauschend liest den Traum das schlaue

Kind, den Blick emporgewandt:

»Bacchus bist du, der belaubte,

Mit dem schwärmerischen Haupte,

Der ins Land der Sonne zieht!

Ohne Heer kannst du bezwingen,

Nur den Thyrsus darfst du schwingen,

Winke nur und Indien kniet!«


Finster grollt der alte Streiter:

»Durch der Wüste heißen Sand?

Immer ferner, immer weiter?

Nach des Indus Fabelstrand?

Kann ein Wink dir Sieg erwerben,

Warum bluten, warum sterben

Wir für dich? Zu deinem Spott?

Lebende kannst du belohnen,

Deine toten Mazedonen,

Wecke sie, bist du ein Gott!« –


– »Welchen dampfenden Altares

Freust du auf der Erde dich?

Bist du die Gewalt des Ares,[126]

Helmumflattert, fürchterlich?

Herr, bevor den niedern Talen

Du dich nahtest ohne Strahlen,

Welches war dein himmlisch Amt?

Bist du Zeus? Bist du ein andrer?

Bist du Helios, der Wandrer,

Dessen Stirne sonnig flammt?«


Grimmig neigt der graue Fechter

Sich zum Ohr des Gottes hin,

Mit unseligem Gelächter

Rührt er an der Schulter ihn:

»Gast des Himmels, warum sinken

Haupt und Schulter dir zur Linken?1

Lastet dir der Erde Raub?

Mit den Göttern willst du zechen?

Spotten hör ich dein Gebrechen:

Alexander, du bist Staub!«


Eine zürnende Gebärde!

Blitz und Sturz! Ein Gott in Wut!

Ein Erdolchter an der Erde

Windet sich in seinem Blut...

In den Abendlüften Schauer,

Ein verhülltes Haupt in Trauer,

Ausgerast und ausgegrollt!

Marmorgleich versteinte Zecher,

Und ein herrenloser Becher,

Der hinab die Stufen rollt.

1

Alexander war schief, seine rechte Schulter etwas höher als die schwächere linke.

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 125-127.
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