20. Die Kinderzeit

[276] O süße Zeit herzinniger Gefühle

Der Kindlichkeit!

Wie denk' ich dein so gern im Weltgewühle,

Du süße Zeit!


Schon ist in Nacht des Lebens viel geschwunden;

Du strahlst von fern

Mir heller stets, wie durch der Dämm'rung Stunden

Der Abendstern.


Noch seh' ich sie als Kind in holdem Sinnen

Nach Veilchen spähn,

Ihr blondes Haar, ihr Lenzgewand von Linnen

Im Winde wehn.
[276]

Noch schwebt vor mir die grüne Seidenschleife,

Die dort sie trug;

Ich wüßte noch die Farbe jeder Streife

Am Busentuch.


Vom Wiesenplan, wohin wir Knaben kamen

Zum Mädchenkreis,

Behielt ich mehr, als ich vom Kreis der Damen

Nach Tagen weiß.


O süße Zeit! als ich von Haselhecken

Mein Pferd mir schnitt,

Und rasch einher auf dem gestreiften Stecken

Das Feld durchritt.


Da reizten mich, statt eitler Lorbeerkränze,

Violen nur;

Des Landguts Hag war meiner Wünsche Grenze,

Mein Hof die Flur;


Vergnügt, wenn ich Soldatenheer' aus Bleie

Zur Schau gestellt,

Und stolzer, als vor meiner Krieger Reihe,

Im Waffenfeld.


Ganz unbekannt war, was mein Herz begehrte,

Zu klein dem Neid.

Mich kümmerten nicht Fürsten, nicht Gelehrte,

Nicht beider Streit.


O süße Zeit! Durchbebt von Wehmutsschauer,

Gedenk' ich dein;

Den Blick nach dir, getrübt von spät'rer Trauer,

Hellt Abendschein.


Gespielen, wir sind nun verändert, älter

Und weit zerstreut;

Auch mancher, ach! zu weltklug, höhnt nun kälter

Die Herzlichkeit.
[277]

Weg ist die Bank, wo wir uns abends setzten,

Und öd' ihr Raum;

Der niedre Strauch, an dem wir uns ergötzten,

Erwuchs zum Baum.


Der Zwang zerriß, am fremden Brautaltare,

Des Herzens Plan,

Und manchen trug die schwarze Totenbahre

Zum Ziel der Bahn.


Klein ward der Kreis! die Abendwolken senken

Sich tief herein;

Wer übrig blieb, muß manchem Angedenken

Schon Seufzer weih'n.

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 41, Stuttgart [o.J.], S. 276-278.
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