Der neue Frühling

[6] Käme doch der Frühling! seufzt' ich oftmals,

Daß der süße Blumenduft, das Flüstern

Holder Birken und das Lied der Lerchen

Meine heißen Thränen trocknen möchten! –

Und in jedem Jahre kam der Frühling,

Und in jedem Jahre weint' ich Thränen:

Töne, Blumen, holdes Baumgeflüster,

Alles ging wie scheu mir aus dem Wege,

Nichts, das meinen heißen Busen kühlte:

Und ich flehte nicht mehr um den Frühling.

Kläglich kam er, kaum daß ich's bemerkte,

Düster blickt' ich in sein grün Gewebe,

Dachte: bist nicht besser als die andern! –


Hinter mir hört' ich ein leises Rieseln,

Wie wenn Bächlein über Kiesel jauchzen,[7]

Hinter mir lief Wind durch das Gebüsche,

Seitwärts nickten alle Blumen freundlich,

Und in sanften röthern Strahlen spielte

Sonnenschein zum grünen Boden nieder.

Sinnend stand ich jetzt, ein Weilchen zweifelnd

Was die holde Täuschung um mich zaubre.


Als ich wieder auf vom Boden blickte,

Stand ein holder Knabe mir zur Seiten,

Goldne Locken hingen um die Schläfe,

Um die Lippen spielte schalkisch Lächeln,

Sah mich an mit keckem blauen Auge:


»Träumer du! zertritt nicht alle Freuden,

Die so zart in deinem Wege liegen!« –

Rief er, hob den Zeigefinger drohend. –

Sieh, wie sich auf mein Gebot die Waldung

Neu begrünt, wie Glanz und süßes Leben

Sich auf jedem Zweige schaukelt; Blumen,[8]

Nachtigallen, Düfte, alles ruft dich

An mit wunderbar-holdseel'gen Tönen;

Gehst du nicht in deinem eignen Schatten?

Bist du, Thor, nicht selber dir im Wege?


Stracks voll Mismuth ward mein banger Busen:

Kinder, sagt' ich, sollten nicht so sprechen,

Thöricht sind sie, haben nichts erfahren,

Leben ohne Sorge, unbefangen,

Wissen über Spielgeräth zu urtheln,

Müssen aber über Kummer schweigen.


Also sagt' ich ernsthaftlich vermahnend,

Meinte, daß er sich wohl schämen dürfte,

Aber laut auf lachte nun der Bube

Und die Fassung wär' mir fast entgangen.


Aber als ich herzlich zürnen wollte,

War Besinnung so wie Zorn entschwunden,[9]

Und wie von dem heiligsten Entzücken

Stand ich überwältigt und gefangen

Mitten in dem allerschönsten Frühling,

Den mein Herz so lange hergesehnet.

Meine Wangen fühlt' ich roth erglühen,

Kühnes Blicks sah ich umher, als wären

Alle Blumen, alle Freuden meine.

Mir entgegen streckten sich Gewinde

Ach! aus Myrthen, zauberischen Rosen,

Kein Cypressenblatt im ganzen Kranze,

Und die schönste Hand streckt' ihn entgegen.


Kind! bin ich zum Kinde wieder worden?

Rief ich, wollte blöde nach dem Kranze

Nicht die Hände zitternd strecken. – Wach ich?

Oder fesselt Schlaf die trüben Sinne,

Daß, um mich zu laben goldne Träume

Wunderbar auf mich herniederspielen?
[10]

Lächelnd sprach der Knabe: Nein, du wachest,

Hast bisher im schweren Traum gelegen,

So wie jetzt wird 's immer um dich bleiben,

Darum weckt' ich dich aus deinen Träumen.


So viel Wonne konnt' ich nicht ertragen,

Wagt' es nicht, dem Kleinen zu vertrauen,

Sank in meine Knie, die Blumenkränze

Rührten kühlend meine heiße Schläfe. –


Du nur kannst mir sagen (sag' es Liebste,)

Darf ich wohl dem Wort des Knaben trauen?

Quelle:
Ludwig Tieck: Gedichte. Teil 1, Heidelberg 1967, S. 6-11.
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