Der Räuber und sein Patenkind

[212] Es war einmal ein Holzschuhmacher, welcher am Rande eines großen Waldes wohnte und nur mit Mühe durch seine Arbeit sich selbst nebst Weib und Kindern ernähren konnte. Er hatte elf Kinder, alle in jugendlichem Alter, und nun wurde dem armen Mann noch ein zwölftes geboren. Fast alle seine Nachbarn hatten ihm schon ein Kind benannt und er wußte nicht, wohin er sich diesmal wenden solle, um einen Paten für seinen Letztgeborenen zu finden. Eines Morgens legte er sein Sonntagsgewand an, nahm seinen eichenen Stock und machte sich, nachdem er sich mit dem Zeichen des Kreuzes bezeichnet hatte, auf den Weg, um den Schloßherrn zu ersuchen, er möge die Güte haben, sein letztgeborenes Kind über die Taufe zu heben. Er ging durchaus nicht rasch, denn er fürchtete schlecht aufgenommen zu werden. Wie er so wanderte, begegnete er einem ziemlich bejahrten Mann, den er nicht kannte. Dieser fragte ihn: »Wohin geht Ihr denn, wackerer Mann?« »Ich gehe, um[212] einen Paten für meinen Jüngsten zu suchen, gnädiger Herr!« »Habt Ihr eine Patin?« »Ja, ich habe eine Patin!« »Gut, wenn es Euch recht ist, so will ich der Pate Eures Kindes sein!« »Ich verlange nichts Besseres, mein guter Herr!« »Kehrt nun heim und findet Euch morgen mit dem Kind und der Patin in der Kirche Eurer Gemeinde ein; ich werde Euch dort erwarten.« »Dank, und der Segen Gottes sei mit Euch, mein guter Herr!« Und der Holzschuhmacher kehrte in seine Hütte zurück, befriedigt über seine Begegnung. Jener Mann war aber der Anführer einer Räuberbande, welche im Walde hauste und viel Böses im Lande tat, doch der Holzschuhmacher kannte ihn nicht. Als jener heimkehrte, fragte ihn seine Frau: »Nun, lieber Mann, hast du einen Paten gefunden?« »Ja, Frau, ich habe einen gefunden.« »Wie? Der Herr ist also so gütig, uns ein Kind zu benennen?« »Ich bin nicht bis ins Schloß gegangen, Frau; ich habe auf dem Weg einen gut gekleideten Mann getroffen, der sich selbst dazu erboten hat, zu unserm Kind Pate zu stehen.« »Und du kennst den Mann nicht?« »Nein, ich kenne ihn allerdings nicht.« »Und du hast seine Hilfe dazu in Anspruch genommen, unser Kind zu einem Christen zu machen? Wenn er nun ein Bösewicht ist, mein armer Mann, ein Räuber vielleicht?« »Das glaube ich nicht, Frau; eher möchte ich annehmen, daß er uns von Gott geschickt worden ist.« »Mein Gott, ich wünschte, das wäre so.«

Am folgenden Tage begab sich der Vater mit dem Kind und der Patin in die Kirche. Der Pate erwartete sie auf dem Friedhof. Das Kind wurde getauft und Franz genannt, und alles ging aufs beste vonstatten. Beim Heraustreten aus der Kirche gab der Pate dem Holzschuhmacher eine Handvoll Goldstücke und sagte zu ihm, er werde in einem Monat sein Patenkind aufsuchen. Dann ging er allein seiner Wege. Der Holzschuhmacher kaufte im Dorf Weißbrot, Fleisch und Wein, und man bereitete an diesem Tage in seiner Hütte ein Mahl, wie man es seit langer Zeit nicht gehabt hatte.

Das Kind aber starb acht Tage später und ging geradeswegs zum Himmelreich. Als es an das Tor des Paradieses[213] gekommen war, setzte es sich nieder. St. Peter sah es und sprach zu ihm: »Tritt ein, mein lieber kleiner Engel!« »Ich will nicht eintreten,« versetzte das Kind, »wenn mein Pate nicht mit mir hineinkommt.« »Wer ist dein Pate, mein kleiner Freund?« Und das Kind sagte, wer sein Pate sei. »Ach, mein kleiner Engel,« erwiderte St. Peter, »dein Pate ist ein böser Mensch, der Anführer einer Räuberbande, und er wird nicht ins Himmelreich kommen. Du aber, komm! Ziehe ein in Frieden!« »Ich will hier nicht ohne meinen Paten einziehen«, sagte das Kind dawider. St. Peter rief nun den lieben Gott, er solle kommen und sehen, was da vorgehe. Der liebe Gott kam und sagte zu dem Kind: »Komm, mein Kind, mein kleiner reiner Engel, komm mit mir in mein Haus, das Himmelreich!« »Ich will nicht kommen,« entgegnete das Kind, »wenn mein Pate nicht mit mir kommt.« »Ach, mein armes Kind,« sagte der liebe Gott, »du weißt nicht, wer dein Pate ist. Soviel ich sehe, ist dein Pate ein Bösewicht, ein Räuberhauptmann, und er hat viel Böses getan und alle möglichen Verbrechen begangen; für solche Leute ist das Himmelreich nicht bestimmt.« »Mich kümmert es nicht, wer mein Pate ist, noch was er getan hat; er hat mir beigestanden, daß ich ein Christ geworden bin, und ich will nicht ohne ihn ins Paradies eingehen.« »Du bist ein gutes kleines Kind,« sagte der liebe Gott, »und ich will für dich tun was ich sonst für keinen Menschen auf der Welt tue. Nimm dieses Kännchen, bringe es deinem Paten und sage ihm, daß er mit dir ins Paradies eingehen kann, wenn er dieses Kännchen mit den Tränen seiner Augen, mit Schmerz- und Reuetränen gefüllt hat. Du wirst ihn im Walde unter einem Felsen im Schlafe liegend finden.« Das Kind nahm das Kännchen und begab sich zu seinem Paten. Es fand ihn, wie es ihm der liebe Gott gesagt hatte, schlafend unter einem Felsen im Walde. Es erweckte ihn, zeigte ihm das Kännchen und berichtete ihm die Worte Gottes. Als der Räuber erfuhr, daß der allmächtige und allbarmherzige Gott ihn auf die Bitte des Kindes hin seines Erbarmens würdigte, da begann er so ausgiebig[214] zu weinen, daß er das Kännchen in einem Augenblick mit seinen Tränen füllte. Sein Herz brach vor Weh und er starb auf der Stelle. Seine Seele aber fuhr mit der seines Patenkindes zum Himmel auf und Gott empfing sie alle beide in seinem Paradies.

Quelle:
FR-Märchen Bd.2, S. CCXII212-CCXV215.
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